Ausstellung:Schämen Sie sich!

Scham im DHMD

Beschämender Witz? Triptychon-Kunst mit Haushälterin von Marx, seiner Buxe und Sahra Wagenknecht.

(Foto: Oliver Killig)

Leben wir in schamlosen Zeiten? Eine Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum nähert sich der Frage - und zeigt "100 Gründe, rot zu werden".

Von Cornelius Pollmer

Karl August Lingner gehört zu den Volksheiligen der Stadt Dresden, und käme die sächsische Staatsregierung auf die Idee, irgendwo im Land ein Regional-Walhalla zu errichten, die "teutsche Zunge" Lingner würde garantiert mit einer Büste gewürdigt. Hinter dem geschlossenen Büstenmund des Unternehmers ließe sich zum Glück leicht verbergen, dass die eigentliche Zunge Lingners eine warzenartige Verhornung aufwies, vermutlich infolge starken Zigarrenrauchens. Der Odol-Erfinder zögerte seinerzeit eine Operation hinaus, sehr wahrscheinlich auch aus Scham, und als sein Leiden schließlich öffentlich wurde, hüteten Konkurrenten nicht mal mehr ihre eigenen Zungen. Vielmehr ergingen sie sich im Spott über den "kranken Mund des Mundwasserkönigs".

Das Schamgefühl ist ein Kuriosum des Menschlichen mit verblüffend vielen Facetten

Zu den Großtaten Lingners gehört neben der Erfindung Odols die Gründung des Deutschen Hygiene-Museums, in dessen Gegenwart vor allem die passierende Lingnerallee an den Initiator erinnert. Nun aber ist Lingner selbst Gegenstand einer Ausstellung. Das Museum vermisst in "100 Gründen, rot zu werden" das eigentümliche Gefühl der Scham - unter der Ordnungsziffer 33, Gesichtsverlust, ist die Totenmaske Lingners zu sehen, ein Bronzestück aus dem Jahr 1916.

Das Schamgefühl ist ein Kuriosum des Menschlichen, eine in der Regel beklemmende Eigenart mit verblüffend vielen Facetten. Zum Beleg musste die Welt nicht auf Lingner warten, schon im Garten Eden schien es ja nach Lage der Akten eine gewisse Unruhe bezüglich der Scham des jeweils anderen gegeben zu haben. Damals bereits ermöglichte erst das Publikum die Pein, und wäre Eva oder wäre Adam allein im Garten gewesen, der Mensch wäre wohl noch befreiter in die Welt getreten.

So aber gab es sie damals und gibt es sie noch heute: Momente der Schwäche, Lähmung, geboren aus Furcht vor der Reaktion und dem Urteil Dritter. Seltsamerweise provoziert genau diese Furcht Sympathie oder zumindest Mitleid, jedenfalls Milde - Schamgefühle nehmen sich auf diese Weise nicht selten ihre eigene Grundlage. Womöglich ist es diese Komplexität, die den Menschen in aller Regel erst zum Ende seines zweiten Lebensjahres die Fähigkeit zur Scham entwickeln lässt, lange nach Wut, Freude, Angst. Und womöglich ist es auch diese Komplexität, die das Schamgefühl so dienstbar und über die Jahrtausende wechselhaft macht in seiner Bedeutung für die Menschheit.

Das Hygiene-Museum ordnet diesen Verlauf formal modern. 100 Gründe, rot zu werden? Das könnte auch eine Liste bei Buzzfeed sein, zu sehen gibt es in Dresden aber keine animierten Gif-Bilder, sondern zu Beginn die durchaus auch grausamen Kapitel der Scham in früheren Zeiten. Dynamometer, Caliper, Orchidometer - die wichtigste Waffe der Scham war früher viel mehr noch als heute die Norm, respektive die Abweichung davon. Zu sehen gibt es auch die Skulpturen Norma und Norman, 1943 erschaffen zur Orientierung und nach den Durchschnittsmaßen von 15 000 weißen US-Amerikanern. Norma und Norman kamen also nicht für eine Sprechstunde bei Jacques Joseph infrage, einem plastischen Chirurgen mit dem schönen Spitznamen "Nasenjoseph".

Der Berliner Arzt entwickelte um 1925 den "doppelseitigen Schiefnasenapparat", mit dessen Hilfe Joseph die Korrektur von Nasen leichter fiel - und mithilfe dessen er, wie die Ausstellung festhält, bei besten Absichten doch auch an einer weiteren Normierung von Schönheitsidealen mitwirkte. Die Ausstellung in Dresden ist reich an solchen oft bemerkenswerten Objekten. Mal geraten diese für den Betrachter durchaus herausfordernd an jener Stelle, wo man lernt, wofür der Begriff Moulagen steht, nämlich Abformung erkrankter Körperteile. Hier lässt sich die hoffentlich kurze Bekanntschaft mit Fleckfieber-Patienten machen, die einem ein Phänomen nicht nur vergangener Tage noch rätselhafter erscheinen lassen: Scham als Hinderungsgrund, medizinische Hilfe zu ersuchen.

Geheimverstecke für Beate-Uhse-Ware und Pupse aus dem Lautsprecher

"Habe keine falsche Scham - der Wille zur Gesundheit ist eine gute Medizin!", heißt es auf einer Werbetafel samt streng gezeichnetem Doktor mit Lehrer-Lämpel-Zeigefinger. Zu Risiken und Nebenwirkungen steht im Beitext: "Erwarte keine Wunder von ihm, sondern hilf dir selbst durch deinen Glauben, dass er dir helfen will und kann."

Wer so durch die nummerierten Gründe schlendert, bei dem stellt sich bald ein Effekt ein, der nur oberflächlich ein paradoxer ist: Je mehr man sich hier, im Museum, mit der Scham befasst, desto mehr fühlt man sich von ihr befreit. Da ist der schmale Durchgang, an dessen Rand es aus kleinen Lautsprechern furzt und pinkelt und kotzt, ohne dass man daran jetzt noch groß Anstoß nehmen würde. Da sind die manipulierten Bücher mit Geheimverstecken für heiße Sichtware von Beate Uhse, die einem fast unschuldig erscheinen in Zeiten, in denen das halbe Internet ein Pornokino zu sein scheint und in denen stellvertretend die Fernsehfigur Bernd Stromberg von einem Techniker nach einem Blick in den Browserverlauf gefragt wird: "Waren Sie hier zuletzt auf Russenschlampen.de?"

Auch gelingt es der Ausstellung, schöne Beispiele für die so unterschiedlichen Ausprägungen von Scham zu vermitteln. Diese Ausprägungen sind: Noch im Mittelalter wurde Scham über den Pranger als Druckmittel zur Disziplinierung eingesetzt. Der Westen ersetzte die Scham nach der Aufklärung und der mit ihr einhergehenden Individualisierung durch die Schuld, welche zudem über den Vorteil verfügt, präziser und, wenn man so möchte, konstruktiver sanktioniert werden zu können. Während die Scham am Pranger mehr der Idee der Demütigung folgt, stehen Schuld und Strafe überwiegend im Geist möglicher Wiedergutmachung.

Welchen Zweck aber hat die Scham dann in der Gegenwart? Dass sie für ein Kollektiv ein empathisches und wichtiges Motiv ist, wird in einem Videoschnipsel der Ausstellung deutlich, in welchem Frank-Walter Steinmeier über den Nationalsozialistischen Untergrund spricht und über dessen "Taten, die uns mit Scham erfüllen". Moderne Scham wird im Hygiene-Museum auch ganz zu Beginn getriggert, noch vor der fast blickdichten Tür zum ersten Raum: "Achtung. In dieser Ausstellung werden sie gefilmt und beobachtet", warnt ein Text an der Wand - und verrät doch nicht, dass dieses Filmmaterial an pikanter Stelle und live in der Ausstellung gegen einen verwendet werden kann, werden wird. Ein schöner, gemeiner Trick.

In einem Begleittext fragt die Ausstellung, ob die Menschheit in schamlosen Zeiten angekommen sei. Sie selbst gibt die Antwort: im Grunde nicht, bei etwa gleichbleibender Bedeutung wechsele die Scham lediglich ihre Gestalt. Zumindest schade ist in diesem Zusammenhang, dass politische Entwicklungen der jüngeren Jahre weitgehend ignoriert werden. Zwar gibt es eine Art sächsisches Séparée, in dem neben der grundsätzlichen Betrachtung von Stolz und Patriotismus auch ein besonderer Blick nach Sachsen möglich ist, dessen Bürger sich immer wieder mit ästhetisch zweifelhafter Folklore schmücken wie etwa dem Sachsen-Lied von Arndt Bause: Sing, mei Sachse, sing. Viele lieben Lieder wie dieses, manchen beschämen sie. Unerörtert hingegen bleibt, wie und dass sich Schamgrenzen im öffentlichen Raum auch gegenwärtig verschieben, betreffend unter anderem die Frage, was man sich öffentlich zu sagen traut, zum Beispiel auf einer Pegida-Bühne oder in einem US-Wahlkampf.

Die politische Dimension der Scham wäre eine tiefere Behandlung wert gewesen, so aber geht es bald wieder zu den schlichteren Ausprägungen der Scham, bis man sich als Besucher schließlich zum wirklichen Affen machen und dessen Bewegungen nachtanzen kann. Hier immerhin ist dem recht modernen Wunsch Rechnung getragen, die Scham öfter zu überwinden. Erkenntnis: Nur wer sich etwas traut, kann auch etwas erreichen. Oder, im Sinne des Affentanzes und nach einer Zeile des Liedermachers Richard Elms: What's the point of having feet, if you're too scared to dance? Was, fragt Elms, nützen Füße, wenn man sich das Tanzen nicht traut?

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