Elementarteilchen:Spuren einer neuen Kraft

CERN

Der LHCb-Detektor ist eines der zwei kleineren von insgesamt vier Experimenten am großen Protonenbeschleuniger des Forschungszentrums Cern. Doch sollten sich dessen Messungen bestätigen, könnte sich die Tür zu einer ganz neuen Physik öffnen.

(Foto: Maximilien Brice/CERN)
  • Das sogenannte Standardmodell beschreibt zwar mit erstaunlicher Genauigkeit den Bauplan des Universums, kann aber viele Fragen nicht beantworten.
  • Nun mehren sich Hinweise auf eine Physik jenseits dieses Modells.

Von Reinhard Breuer

Ist nicht längst alles gefunden, was es zu finden gibt, in der Welt der Elementarteilchenphysik? War nicht das 2012 am Forschungszentrum Cern entdeckte Higgs-Boson der letzte fehlende Baustein, um das mikrokosmische Fundament des Universums zu erklären? Das berühmte Gottesteilchen?

Mitnichten. Der aktuell bekannte Bauplan des Universums, das sogenannte Standardmodell, beschreibt zwar mit großer, zum Teil erstaunlicher Genauigkeit viele Phänomene der Quantenwelt. Aber es versagt in fundamentalen Fragen, zum Beispiel, wenn die Gravitation eingewoben werden soll in das universale Formelwerk.

Es muss also noch mehr zu entdecken geben in den Teilchenlaboren dieser Welt. Doch auf der Suche nach neuer Physik schienen die Physiker jahrelang lediglich im Dunklen zu tappen. Beinahe zu ihrem Missvergnügen mussten sie erleben, dass immer neue Messungen besser zu ihrem Standardmodell passten, als sie es sich jemals erhofft hatten.

Nun jedoch mehren sich Hinweise auf eine Physik jenseits des Standardmodells. Mit der Auswertung neuer Daten vom größten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem Large Hadron Collider LHC am Forschungszentrum Cern bei Genf, stießen Forscher eines Experiments namens LHCb in den vergangenen Jahren auf Abweichungen vom Standardmodell. Letzeres beschreibt mathematisch alle bekannten Fundamentalpartikel sowie die Kräfte, welche zwischen ihnen wirken.

Das bekannte Modell brachte endlich Ordnung in den Teilchenzoo

Vor Jahrzehnten brachte es endlich Ordnung in den zuvor unübersichtlichen Teilchenzoo. So unterscheiden die Physiker heute, abgesehen vom Higgs-Boson, nur zwei grundlegende Teilchensorten mit je sechs Vertretern: einerseits die sechs Quarks, von denen die zwei leichtesten die Protonen und Neutronen formen, also die Atomkerne aller chemischen Elemente, und andererseits sechs Leptonen - darunter das bekannte Elektron mit seinen massereicheren Cousins, dem Myon und dem Tau, sowie drei dazu passende, nahezu masselose Neutrinos.

Vier Kräfte regieren diesen Teilchenzoo: die starke und schwache Wechselwirkung, die elektromagnetische Kraft sowie die Gravitation. Manche der Teilchen sind gegen eine oder mehrere dieser Kräfte immun. Was Quarks und Leptonen dabei hauptsächlich unterscheidet: Quarks reagieren auf die starke Kernkraft, welche unter anderem die Atomkerne zusammenhält, Leptonen hingegen gar nicht. Und was die schwache Wechselwirkung betrifft, die unter anderem für Radioaktivität verantwortlich ist: Sie wirkt, wie auch der Elektromagnetismus, auf die drei Leptonen Elektron, Myon oder Tau in exakt gleicher Weise - trotz der drastisch verschiedenen Teilchenmassen.

Dieses hehre Prinzip, Fachleute sprechen etwas hochtrabend von "LeptonUniversalität", bildet eine wichtige Säule des Standardmodells. Doch lassen die neuen Messungen am LHCb nun ahnen, dass es doch eine Ungleichbehandlung in der Welt der Leptonen geben könnte. Öffnet sich hier ein Tor zu neuen Naturgesetzen?

Das Standardmodell: brillant und völlig verfehlt

"Das Standardmodell der Teilchenphysik ist zugleich brillant und völlig verfehlt", seufzte einmal ein Theoretischer Physiker. Einerseits erklärt es die in Teilchenbeschleunigern beobachteten Fundamentalprozesse mit fantastischer Genauigkeit. Andererseits liefert es keine Einsicht in die Gravitation, auch nicht in die kosmisch relevante Dunkle Materie oder die noch rätselhaftere Dunkle Energie. Auch bleibt in diesem Rahmen offen, warum Protonen und Elektronen eine, wenn auch gegensätzliche, exakt gleich starke elektrische Ladung haben. Oder warum es genauso viele Quarks geben sollte wie Leptonen.

Dass es eine neue Physik geben muss, ist längst kein Streitpunkt mehr. "So ist schon lange bewiesen", sagt der Theoretische Physiker Andreas Crivellin vom Paul Scherrer Institut im Schweizer Villigen, "dass Neutrinos eine Masse haben, auch wenn sie sehr klein ist." Laut Standardmodell müsste sie jedoch gleich null sein.

Beim Zerfall des zweitschwersten der sechs Quarks, dem "Bottom-Quark", in die beiden schwereren Leptonen Myon und Tau stießen Crivellin und Forscherkollegen jetzt auf deutliche Abweichungen von den Vorhersagen des Standardmodells. Wie sie kürzlich in dem Fachblatt Journal of High Energy Physics konstatierten, weisen diese "mit hoher Signifikanz" auf eine "neue Physik" hin. Die lange unangefochtene Lepton-Unversalität scheint damit schwer in die Bredouille zu geraten.

Bei diesem Ergebnis klingeln sozusagen die Alarmglocken. Noch wird der Begriff einer "Entdeckung" am Cern offiziell vermieden, da die Signifikanz der Messung sich noch erhärten soll. Doch sollte sich die Sache bestätigen, so scheint es eine neue, im Standardmodell nicht vorgesehene Kraft zu geben, welche auf die drei geladenen Leptonen - Elektron, Myon und Tau - eben doch unterschiedlich einwirkt. Crivellin: "Am stärksten auf die Tauonen, etwas moderater auf Myonen, schwach oder gar nicht auf Elektronen."

Auch beim Higgs-Teilchen gab es indirekte Hinweise, bevor das Partikel selbst gefunden wurde

Zeigt sich hier die Signatur ganz neuer Elementarteilchen? "Mein Favorit sind die sogenannten Leptoquarks", bekennt Andreas Crivellin. "Diese hätten die ungewöhnliche Eigenschaft, gleichzeitig mit Quarks und Leptonen wechselwirken zu können." Eine im bisherigen Standardmodell unerhörte Teilchenvariante. Falls sie existiert, könnten sie die Umwandlung von Quarks in Leptonen und umgekehrt bewirken. Zugleich würden Leptoquarks erklären, warum Protonen und Elektronen die gleiche elektrische Ladung tragen. Die Idee ist nicht neu: Postuliert wurden Leptoquarks bereits vor Jahrzehnten in mehreren Modellen zur Erweiterung des Standardmodells, so auch 1974 von den amerikanischen Theoretikern Howard Georgi und Sheldon Glashow.

"Noch haben wir weder solche noch andere neue Teilchen gefunden", beschwichtigt Andreas Crivellin. "Aber es war schon oft so, auch beim Higgs-Teilchen, dass zuerst indirekte Hinweise auftauchten und dann erst die neuen Elementarpartikel aufgespürt wurden." Die neuartigen Leptoquarks könnten sogar eine für heutige Teilchenbeschleuniger erreichbare Masse haben - und dementsprechend eines Tages als handfeste Signatur in den Messdaten auftauchen. Womöglich sind sie nur zehn- bis zwanzigmal so schwer wie das Higgs-Boson. "In diesem Fall könnten Leptoquarks bereits in naher Zukunft am LHC entdeckt werden."

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