Einzelhandel:Das Ende der Kasse

Getrieben von Online-Handel und Digitalisierung stehen die Supermärkte vor dem größten Umbruch seit ihrer Erfindung. Der Einkauf soll in Wohlfühlatmosphäre stattfinden, zugleich auf Effizienz getrimmt.

Von Marlene Weiss

Gerrit Kahl schiebt den Einkaufswagen zum Stand mit den Plastikorangen und nimmt eine heraus. Das Tablet in der Halterung am Wagen piepst, die Orange taucht auf dem Bildschirm auf: "Das System weiß, dass ich hier bin", sagt Kahl, Sensoren haben sein Tablet erkannt und die Orange gemeldet. Ein paar Schritte weiter nimmt Kahl einen leeren Müslikarton aus dem Regal. 1,60 Euro, zeigt das digitale Preisschild an. Ein regionales Produkt, lobt das Tablet, ach, die Schoko-Bananen-Flocken kommen aus dem Saarland? Nein, es ist nur der Hersteller gemeint. Willkommen in St. Wendel, im Innovative Retail Laboratory des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), in dem Laborleiter Kahl und seine Kollegen am Einkauf der Zukunft arbeiten.

Und das ist kompliziert, denn man hat es mit dem Kunden zu tun, dem größten Störfaktor im Supermarkt. Der Hilfe will, aber nicht zu viel Technik, der sich schicke, aber billige Läden wünscht, der bezahlen muss, aber darunter leidet. Und der schnell einkaufen, die Sache aber zuweilen auch genießen will. "Das Ziel sind zwei Märkte in einem", sagt Antonio Krüger, wissenschaftlicher Direktor des Forschungs-Supermarkts, der neben Kahl durch die Kulisse läuft: "ein Feng-Shui-Erlebnismarkt, und ein auf Schnelligkeit getrimmter Supermarkt".

Dabei erscheint nicht unbedingt alles sinnvoll, was in St. Wendel ausprobiert wird. Das zeigt sich zum Beispiel an der Bedientheke, wo Krüger auf Wurst und Käse zeigt. Eine Kamera registriert seine Bewegungen, auf einem Bildschirm erscheint das Produkt, auf das er deutet. Oder das daneben, davor, dahinter; zeigen ist eine vertrackte Sache, der eine peilt, der andere zielt, wie soll sich das Gerät da auskennen? Aber auch wenn diese Funktion sich nie durchsetzen sollte: Sicher ist, dass der Lebensmitteleinkauf sich verändern wird.

Derzeit größtes Ärgernis beim Einkauf: das Bezahlen an den Kassen

Der durchschnittliche Deutsche verbringt sehr viel Zeit im Supermarkt. Allein an den Kassen wartet er jedes Mal etwa sieben Minuten, und zerstreut ist er auch noch; oft vergisst er mindestens einen Artikel, und geht auch darum häufig dreimal pro Woche oder mehr einkaufen. Und wozu? Um Milch, Joghurt, Salat, Käse, Wurst, Dosentomaten und Spaghetti in den Wagen zu laden, meist immer wieder das Gleiche, gelegentlich ergänzt durch Kaffee, Klopapier und Müllbeutel. Derart stupide Tätigkeiten wurden in anderen Bereichen längst wegautomatisiert.

Noch hält sich das bizarre Ritual jedoch. Das liegt zum einen am Preis: Die Margen sind bei Lebensmitteln ohnehin schon winzig, Online-Einkäufe sind im Zweifel eher teurer, weil noch die Lieferung hinzukommt. Bei frischen Produkten ist die Kühlkette ein Problem, und schließlich wollen viele ihre Lebensmittel einfach lieber direkt aussuchen.

Trotzdem ist der Lebensmittel-Markt im Umbruch, auch wenn das nicht in so dramatischem Tempo geschieht, wie es bei Büchern oder Musik passiert ist. Der Online-Riese Amazon bedient mit seinem Lebensmittel-Lieferdienst Amazon Fresh seit Anfang Mai Berlin und Potsdam sowie mit Prime Now auch München. Das Angebot soll noch ausgeweitet werden. Auch Abo-Dienste für Bio-Kisten, Windeln oder Kochboxen nehmen den traditionellen Supermärkten Marktanteile weg.

Die versuchen, sich zu wehren. Viele Rewe- oder Edeka-Märkte bieten einen Online-Vorbestellservice an, dann muss man die fertig gepackten Einkäufe nur noch auf dem Heimweg abholen. Supermärkte und Discounter haben ihre Läden reihenweise aufgehübscht, heller und geräumiger gemacht. Regale waren früher leicht zwei Meter hoch, heute können Kunden oft drüber schauen, die Orientierung ist einfacher geworden. Häufig gibt es noch ein Café oder Probierstände.

Das scheint sich auszuzahlen. Nach Laden-Modernisierungen wird durchweg das größere Sortiment gelobt, die bessere Auswahl bei Obst und Gemüse, sagt Marc Knuff von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), die aus ihrem Verbraucherpanel mit 30 000 Haushalten und qualitativen Befragungen den Kunden wohl besser kennt als er sich selbst. "Dabei stimmt das gar nicht. Es ist nur mehr Platz", sagt Knuff. Jedenfalls könne der deutsche Verbraucher sich nicht beschweren, es hat sich viel getan.

Und die Händler bemühen sich wirklich um den Kunden, auch wenn der nicht immer viel davon hat. Im Eingangsbereich - der sogenannten Bremszone - stellen sie meist Obst- und Gemüsestände auf. Das sieht nett aus, und der Kunde ist auf den ersten Metern sowieso mit ankommen beschäftigt, dicht gepackte Regale nimmt er nicht wahr. Dumm nur, dass dann Salat und Erdbeeren zuerst im Korb landen. Milchprodukte dagegen stehen oft ganz hinten, damit man viel vom Laden zu sehen bekommt und spontan noch Olivenöl und Haarshampoo mitnimmt.

Zwei Liter Milch oben, Beeren unten - suboptimal. In sehr vielen Geschäften läuft man zudem linksherum vom Eingang zur Kasse; angeblich verträgt sich das besser mit der Gehirnstruktur, und es wird mehr gekauft. Viele Supermarkt-Forscher halten das allerdings für eine Legende, erwiesen ist es nicht. Ähnlich ist es mit den krummen Preisen: Noch heute glauben viele Händler fest daran, dass 2,99 Euro sich leichter bezahlt als drei Euro, dass 9,95 nach weniger klingt als zehn. Als Hermann Diller, inzwischen Emeritus der Universität Erlangen-Nürnberg, das jedoch in den Neunzigerjahren testete, zeigte sich nichts davon: Der Umsatz der aufgerundeten Drogerie-Produkte blieb stabil. Andere Versuche im Versandhandel zeigten jedoch sehr wohl einen Effekt - das könnte allerdings auch daran liegen, dass viele Kunden inzwischen automatisch "billig" denken, wenn sie eine neun nach dem Komma sichten.

Aber das größte ungelöste Problem des physischen Einkaufs ist das Bezahlen. "Kassen sind immer ein Ärgernis", sagt Antonio Krüger in St. Wendel, "das macht das ganze Kauferlebnis kaputt". Online muss sich der Kunde kaum mit dem Geldausgeben beschäftigen, mit 1-Click-Systemen oder gar per Spracherkennung mit den Alexa-Zylindern von Amazon, bei denen man mündlich bestellen kann. Auch im Nebenraum des Forschungssupermarkts steht so ein Gerät. Kaum spricht man von Alexa, ertönt eine bedauernde Stimme von nebenan: "Ich habe das leider nicht verstanden."

An der Kasse endet das Feng-Shui-Wohlgefühl, am liebsten würden Einkaufs-Ingenieure sie abschaffen. Kahl und Krüger sind inzwischen am Ausgang angekommen, wo nur eine Art weiße Theke steht, Ikea-Stil. Auf ein Kontaktfeld hält Kahl einen Autoschlüssel. Vermutlich parkt irgendwo auf dem Hof die passende Auto-Attrappe dazu, aber hier geht es um den eingebauten Chip: Der autorisiert die Bezahlung der Produkte, die das Tablet registriert hat. Viel sanfter kann man eine Geldübergabe nicht gestalten.

182 Minuten

oder gut drei Stunden pro Woche verwenden erwachsene Deutsche laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2013 auf das Einkaufen von Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs (nicht im Internet). Bei Frauen ist es eine halbe Stunde mehr als bei Männern, damit hat sich das Engagement der Geschlechter deutlich angeglichen: Noch 1996 betrug der Unterschied mehr als eine Stunde in der Woche. Insgesamt verbringt der Durchschnittsdeutsche damit mehr als ein Jahr seines Lebens in Supermärkten und anderen Geschäften.

Aber das System arbeitet mit RFID-Tags. An jedem Produkt ist eine kleine elektronische Markierung angebracht, die den Antennen im Regalboden mitteilt, was herausgenommen wurde. "RFID-Tags auf allen Supermarkt-Produkten wären nicht realistisch", sagt Kahl, "dafür sind sie zu teuer". Auf einem Joghurt für 45 Cent, an dem der Händler nach Abzug seiner Kosten vielleicht einen Cent verdient, lohnt sich kein RFID-Marker.

Eine Alternative könnten Kameras sein, die das Produkt automatisch identifizieren. Im Prinzip ist das machbar, aber kompliziert. Vorne dabei ist wieder einmal Amazon. Das Unternehmen arbeitet längst an einem kassenlosen Supermarkt namens Amazon Go. In dem Werbe-Video dazu halten schöne Menschen kurz das Smartphone auf einen Sensor und stecken dann schöne Produkte ein, mit denen sie unbehelligt aus dem Laden spazieren.

Eigentlich sollte das erste Geschäft in Seattle schon Anfang des Jahres eröffnen, doch der Start wurde verschoben. Offenbar macht die Technik Probleme, sobald mehr als 20 Leute einkaufen oder Bewegungen zu schnell sind. Trotzdem hält Amazon an dem Konzept fest; einen Lebensmittelmarkt von 800 Milliarden Dollar allein in den USA will man sich nicht kampflos entgehen lassen. Ende vergangener Woche hat Amazon seinen Go-Slogan "No Queue. No Checkout. (No, seriously)" auch in Europa schützen lassen.

Heute wissen Händler vor den Kunden, dass diese am Samstag Grillfleisch kaufen werden

Schon jetzt treibt der Händler mit seinen Methoden die anderen vor sich her. Denn auch wenn viele Amazon noch für ein Handels- und Logistik-Unternehmen halten - im Grunde ist es ein Daten-Konzern.

"Bei Amazon ist jede einzelne Entscheidung datengetrieben, dem muss man etwas entgegensetzen", sagt Michael Feindt. Früher hat der Physiker am Teilchenforschungszentrum Cern gearbeitet und die Datenberge der dortigen Detektoren ausgewertet. Aber als er vor vielen Jahren eine Menge Geld mit Aktienfonds verloren hatte, fing er an, seine Algorithmen auch auf den Aktienmarkt anzuwenden. Und schließlich gründete er 2008 Blue Yonder: Das Unternehmen wertet die Kassenzettel-Daten von Handelsketten aus, gibt Wetterdaten und Ähnliches dazu, und lässt am Ende einen komplexen Algorithmus drüberlaufen.

Heraus kommt eine ziemlich gute Prognose, was morgen, übermorgen, am Wochenende gekauft wird - lange bevor die Kunden selbst wissen, dass sie am ersten warmen Samstag seit Monaten in Massen Fleisch für spontane Grillparties kaufen werden. So kann der Händler automatisiert bestellen, und muss weniger wegwerfen. Der erste große Kunde war der Drogeriemarkt dm, inzwischen plant Blue Yonder für seine Kunden unter anderem fast den gesamten Sushi-Verkauf in deutschen Supermärkten. Die Fischhäppchen sind exakt zwei Tage haltbar.

"Die meisten Firmen haben Daten gesammelt, aber noch nicht allen ist klar, wie wertvoll sie sind", sagt Feindt. Nicht nur für die Einkaufsoptimierung, auch für die Preissetzung. Am Ende der Saison die Ladenhüter im Schlussverkauf verramschen, kurz vor Ablauf der Haltbarkeit noch schnell reduzieren? Das geht besser.

Feindt wehrt sich aber gegen die Unterstellung, der Kunde solle ausgenommen werden wie eine Weihnachtsgans, indem stets das verlangt wird, was er gerade noch zu bezahlen bereit ist. "Gute Preisgestaltung geht nicht gegen den Konsumenten, sondern sichert das Überleben des Händlers, der seine Margen halten muss", sagt er. "Der Verbraucher hat nichts davon, wenn nur Amazon Daten-Methoden nutzt und deshalb am Ende als einziger Anbieter übrig bleibt."

Und so ist die Zukunft der Supermärkte wieder ziemlich offen, fast genau 60 Jahre nachdem 1957 in Köln der erste große Supermarkt in Deutschland aufmachte. Man wisse noch nicht, schrieb damals skeptisch die Zeit, ob der "spektakuläre Anreiz eines Supermarktes" groß genug sein werde, "dieses Experiment aus dem Bereich der Einmaligkeit in den Bezirk dauerhafter rationaler Betriebswirtschaft zu heben".

In St. Wendel ist der Einkauf beendet. "Alexa, stoppe Systeme", sagt Gerrit Kahl zum schwarzen Zylinder, das hat er neu eingerichtet. Das Rolltor fährt herunter - Ladenschluss.

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