Ein Jahr nach dem Kölner Urteil:Neue Debatte um Beschneidung

Vor einem Jahr erklärten Kölner Richter die rituelle Beschneidung von Jungen zur Straftat, im Dezember erließ der Bundestag ein Gesetz, das den Eingriff legalisiert. Doch ein Papier europäischer Kinderärzte und neue Anzeigen gegen einen jüdischen Beschneider heizen die Debatte wieder an.

Von Markus C. Schulte von Drach

Am 7. Mai 2012, vor genau einem Jahr, fällten Kölner Richter ein aufsehenerregendes Urteil: Sie bewerteten die rituelle Beschneidung eines minderjährigen Jungen als Straftat und lösten damit in der Gesellschaft eine heftige Debatte um die Zulässigkeit dieses religiösen Rituals aus.

Zwar hat der Bundestag im Dezember 2012 ein Gesetz verabschiedet, mit dem der Eingriff legalisiert wurde. Doch die Diskussion ist damit - anders als von Politikern erhofft - noch nicht vorbei.

Vor allem die Entscheidung der Abgeordneten, es Eltern völlig freizustellen, ihren Söhnen einen Teil der Vorhaut abschneiden zu lassen, hat bei vielen Menschen bleibenden Unmut ausgelöst. Voraussetzung für die Operation ist nur noch, dass der Eingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt. Jene Kritiker des Rituals, denen es um das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit und um die Religionsfreiheit des Nachwuchses geht, wollen sich damit natürlich nicht zufriedengeben.

Zum Jahrestag des Kölner Urteils werden einige Beschneidungsgegner ihren Unmut über die Bundestagsentscheidung erneut demonstrieren - und zwar in Köln selbst. Eine Reihe von Organisationen hat zu der Veranstaltung aufgerufen, darunter die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, Pro Familia Nordrhein-Westfalen, die Giordano-Bruno-Stiftung, Terre des Femmes, (I)NTACT und Mogis, ein Verein von Opfern sexuellen Missbrauchs, der sich für die Rechte von Kindern einsetzt.

Kritiker des Rituals sehen sich seit der Entscheidung des Bundestags in ihrer Haltung sogar noch bestärkt. Denn eines der wichtigsten Argumente der Befürworter der Beschneidung ist ins Wanken geraten: Die Bundestagsabgeordneten hatten sich unter anderem an einer Empfehlung des Verbandes der US-amerikanischen Kinderärzte (AAP) zur Beschneidung orientiert. Diese Organisation hatte im August 2012 in Pediatrics, dem wichtigsten Fachjournal für Kinderärzte, eine Stellungnahme veröffentlicht. Dort hieß es, der Eingriff berge zwar Risiken, wissenschaftliche Studien hätten jedoch gezeigt, dass die gesundheitlichen Vorteile überwiegen.

Mit dem Argument, die Operation könnte als medizinische Vorsorgemaßnahme gegen mögliche spätere Leiden betrachtet werden, hebelten die Verteidiger der rituellen Beschneidung die Kritik aus, dass der Eingriff gegen das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und seine Religionsfreiheit verstoßen würde.

Im Frühjahr aber haben Vertreter von 19 europäischen Kinderärzteverbänden unter anderem aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und Skandinavien, ihren Kollegen aus den USA deutlich widersprochen. Ihre Kritik an der Empfehlung der AAP haben sie ebenfalls in Pediatrics veröffentlicht. Die Schlussfolgerungen der achtköpfigen Taskforce der amerikanischen Vereinigung reflektiere, "was diese Ärzte individuell als vertrauenswürdige Belege wahrgenommen haben", schreiben die Kritiker. Und sie "unterscheiden sich von jenen, die Ärzte in anderen Teilen der westlichen Welt, darunter Europa, Kanada und Australien, gezogen haben".

Bis auf eine Ausnahme würden die von den US-Ärzten angegebenen Vorteile einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Zu ihrer Empfehlung seien die Amerikaner gekommen, indem sie sich gezielt auf Studien berufen hätten, die für eine Beschneidung als Vorsorgemaßnahme sprachen, sagte Volker von Loewenich von der Ethikkommission der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin der Zeit. Studien, die ein gegenteiliges Ergebnis hatten, seien nicht berücksichtigt worden.

"Keine überzeugenden gesundheitlichen Vorteile"

Beispiel Peniskrebs: "Die Hinweise [auf positive Effekte der Beschneidung] sind schwach, die Krankheit ist selten und hat eine gute Überlebensrate", schreiben die Ärzte. "Sie lässt sich mit weniger schweren Eingriffen vorbeugen und es gibt keinen überzeugenden Grund, Jungen ihr legitimes Recht vorzuenthalten, ihre eigene informierte Entscheidung zu fällen, wenn sie alt genug sind."

Auch Hinweise auf eine vorbeugende Wirkung der Beschneidung für Herpes, Genitalwarzen oder HIV-Infektionen seien "fragwürdig, schwach und haben wohl wenig Bedeutung für die öffentliche Gesundheit unter den Bedingungen der westlichen Welt". Lediglich Harnwegsinfektionen kämen bei beschnittenen Kindern im ersten Lebensjahr etwas seltener vor. Diese ließen sich aber problemlos mit Antibiotika behandeln. Eine Amputation gesunden Gewebes sei nicht gerechtfertigt.

Bei all diesen Unsicherheiten "sollten Ärzte das Vorsorgeprinzip beachten und nicht die Beschneidung als Vorsorgemaßnahme empfehlen", schließen sie. Denn mit 100 Beschneidungen würde zwar, statistisch gesehen, eine Harnwegsinfektion vermieden, aber zwei Fälle von Komplikationen durch die Operation selbst - von Infektionen bis zum Tod - in Kauf genommen.

Auf der anderen Seite "scheint es, als würden die Autoren des AAP-Berichts davon ausgehen, dass die Vorhaut keine wichtige sexuelle Funktion" habe. Jüngere Studien sprächen jedoch dafür, dass die Entfernung der äußerst sensiblen Vorhaut zu sexuellen Problemen führen könnte, schreiben ihre europäischen Kollegen.

Der Däne Morten Frisch vom Statens Serum Institut in Kopenhagen sagte der Zeit, in den USA würden jährlich eine Million Jungen beschnitten. Damit, so der Hauptautor des kritischen Kommentars in Pediatrics, machten seine Kollegen dort mehrere Hundert Millionen Dollar Umsatz. Für Frisch ist es der Zeit zu folge "offensichtlich", dass sich daraus ein Interessenkonflikt ergebe, der aber nicht deklariert werde.

Für die europäischen Kinderärzte gibt es "einen wachsenden Konsens unter Ärzten auch in den USA, dass man Eltern von der Beschneidung gesunder kleiner Jungen abraten sollte, da die nicht medizinisch begründete Beschneidung in den westlichen Gesellschaften keine überzeugenden gesundheitlichen Vorteile hat". Darüber hinaus würde sie postoperative Schmerzen verursachen, könne ernsthafte langfristige Konsequenzen haben, verletze die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen und "verstößt gegen den Hippokratischen Eid".

Neue Anzeigen gegen Rabbiner

Erneut angeheizt wird die Debatte um die Beschneidung auch durch Anzeigen gegen einen israelischen Rabbi und ein ultraorthodoxes jüdisches Ehepaar aus Berlin. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft, ob der Mohel, den die Eltern zur Beschneidung ihres Sohnes eingeladen hatten, gegen das neue Gesetz verstoßen hat. Er soll - einem alten Brauch folgend - das Blut mit dem Mund von der Wunde des Kindes abgesaugt haben.

Mit dieser Metzitzah B'peh genannten Praxis habe er gegen Paragraf 1631d BGB verstoßen, kritisiert Christian Bahls vom Verein Mogis, der den Rabbi angezeigt hat. Das neue Gesetz erlaubt die Beschneidung schließlich nur, wenn sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt. Dagegen verstoße die Metzitzah B'peh jedoch. "In eine solche Praxis können die Eltern also nicht rechtmäßig einwilligen", schreibt Bahls auf der Mogis-Homepage. "Die Vorhautamputation erfolgte also rechtswidrig."

Auch gegen die Eltern läuft eine Anzeige wegen Beihilfe zu gefährlicher und schwerer Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Der betroffene Vater, selbst Rabbiner, erklärte der Berliner Morgenpost, er habe den Mohel angewiesen, den Eingriff nach den Regeln der ärztlichen Kunst und unter Beachtung der deutschen Gesetze vorzunehmen. Und das hätte dieser eigenen Angaben zufolge auch getan.

Die Metzitzah B'peh ist auch unter Juden umstritten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich dagegen ausgesprochen - wer sie praktiziert, soll keine Zertifizierung als Mohel erhalten.

Der Präsident des Zentralrats, Dieter Graumann, forderte der Berliner Morgenpost zufolge allerdings, dass alle den Frieden würdigen sollten, der durch das neue Gesetz geschaffen worden sei. "Auch diejenigen, die die Beschneidung von Jungen im Judentum und im Islam weiter mit belehrender Bevormundung geradezu fanatisch bekämpfen, wie das bei den Anzeigestellern der Fall ist, sollten diesen frischen Frieden jetzt nicht aufkündigen."

Christian Bahls selbst sagt, ihm gehe es nur darum, darauf hinzuweisen, "dass es Personen gibt, die sich nicht einmal an die Minimalanforderungen des Gesetzgebers - wie einer Durchführung [der Beschneidung] nach den Regeln der ärztlichen Kunst - zu halten bereits sind", schreibt er. Nun ist es an der Berliner Justiz, festzustellen, ob dieser Vorwurf berechtigt ist.

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