Durchbruch in der Elektrotechnik:Strom auf Schwingen

Dem US-Physiker Marin Soljacic ist es gelungen, elektrische Energie durch die Luft zu übertragen. Nun steht die Industrie bei ihm Schlange.

Martin Kotynek

Es ist ein flaches Gebäude aus rotem Backstein, so unscheinbar, dass man es in Watertown, dem kleinen Vorort von Boston, nicht gleich findet. Doch was sich in ihm verbirgt, könnte das Zeug dazu haben, die Welt zu verändern. Im ersten Stock gibt es einen fast leeren, fensterlosen Raum, in dem sich nur ein Tisch, ein Fernseher und zwei kleine, schwarze flache Vierecke befinden, die in der Mitte hohl sind. Stromkabel sieht man keine, und das ist auch das Besondere an Marin Soljacics Erfindung: Er braucht keine Kabel, um Strom zu übertragen, er kann ihn drahtlos durch die Luft schicken.

Durchbruch in der Elektrotechnik: Ein Sender unter dem Tisch schickt den Strom hinauf zum Empfänger, der einen Fernseher mit Energie versorgt.

Ein Sender unter dem Tisch schickt den Strom hinauf zum Empfänger, der einen Fernseher mit Energie versorgt.

(Foto: Foto: Kotynek)

Was wie ein Zaubertrick klingt, halten Experten für einen Durchbruch in der Elektrotechnik. Er könnte die Menschheit aus ihrer Abhängigkeit von Stromkabeln, Akkus, Batterien und Ladegeräten befreien - und zwar in genau 18 Monaten. Dann will Marin Soljacic seine Technologie auf den Markt bringen.

Lange galt es als völlig unpraktikabel, Strom kabellos zu übertragen. Die Menschheit schien sich damit abgefunden zu haben, dass Elektrizität aus Steckdosen kommt und durch Drähte fließt.

Der Physiker Soljacic aber ärgerte sich darüber, wenn wieder einmal der Akku seines Handys leer war und ihn der Alarmton aus dem Schlaf riss. "Ich wollte einfach, dass sich mein Handy ohne mein Zutun von selbst auflädt, sobald ich es in einen Raum bringe", sagt der Professor, der am Bostoner Massachusetts Institute of Technology (MIT) forscht. Dabei griff der Physiker eine Idee aus jener Zeit auf, in der die Elektrizität gerade erst erfunden war.

Als der Streit noch heftig tobte, ob man lieber Gleichstrom oder Wechselstrom verwenden sollte, schrieben die Organisatoren der Weltausstellung von St.Louis einen Wettbewerb aus. Wem es gelänge, Strom drahtlos zu übertragen, der sollte 3000 Dollar bekommen. Nikola Tesla, der Pionier der Elektrotechnik und Erfinder des Wechselstrom-Generators, war überzeugt, dass es funktionieren könnte und probierte es aus.

Er ging sogar so weit, auf Long Island vor New York einen 20 Stockwerke hohen Turm zu bauen, der als Sender dienen sollte. Irgendwann aber ging ihm das Geld aus, weil seine Finanziers nicht daran interessiert waren, dass Strom für alle und überall frei verfügbar sein sollte. Das war vor 104 Jahren - seitdem gab es kein großes Interesse mehr an dem Thema. Überall auf der Welt wurden Stromkabel verlegt, und die Menschheit gewöhnte sich an sie.

Deshalb war es für Soljacic auch so schwierig, Fachleute von seiner Idee zu überzeugen. Als er die Theorie entwickelt hatte, wie Strom fliegen kann, hielten es Experten für unmöglich, Soljacic sollte den praktischen Beweis antreten. Und genau das tat der heute 34-Jährige auch. Er baute zwei überdimensionale Drahtspulen mit einem Kern aus Holz, hängte sie mit einer Schnur an der Decke auf und befestigte an einer der beiden Spulen eine Glühbirne, die er dann auch zum Leuchten brachte. Die Ergebnisse veröffentlichte er in dem renommierten wissenschaftlichen Fachjournal Science. Die Überraschung war dementsprechend groß.

Inzwischen hat der Physiker eine Firma gegründet und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt einen Prototyp gefertigt, ihn in dem unscheinbaren Backsteingebäude außerhalb von Boston versteckt und dort weiterentwickelt. Eigentlich wollte Soljacic seinen Prototyp erst im Januar auf der Consumer Electronics Show in Las Vegas, der weltgrößten Messe für Unterhaltungselektronik, vorstellen, doch die Elektronikhersteller bestürmten ihn.

Monatelang zierte er sich, seine Erfindung zu zeigen, doch vor kurzem hat er den vielen Anfragen nachgegeben. Seitdem pilgern Vertreter der Unterhaltungsindustrie in das Backsteinhaus und malen sich aus, wie sich ihre Produkte den Strom künftig aus der Luft holen und ohne Akkus und Ladegeräte in jedem Raum funktionieren und von selbst aufladen würden.

Der Chiphersteller Intel hat die Technik vor kurzem sogar nachgebaut und ist von ihrer Funktion überzeugt. Als erstes europäisches Medium konnte die Süddeutsche Zeitung die Technik ausprobieren.

"Diese Technologie hat die Möglichkeit, die Welt zu verändern"

Wer das Labor im ersten Stock betritt, sieht gleich, dass dem Forscher wohl bewusst ist, welche Bedeutung seine Entwicklung hat. Noch verlieren sich die 13 Mitarbeiter in dieser Etage, aber die gesamte Fläche ist schon jetzt mit zahlreichen kleinen Bürokojen durchzogen, die durch Gipswände voneinander getrennt sind. Soljacic wollte offensichtlich für die Entwicklungen der nächsten Monate Platz schaffen. "Bei aller Bescheidenheit ist mir natürlich klar, dass diese Technologie die Möglichkeit hat, die Welt zu verändern", sagt der Physiker.

Und so führt er einen dann in den beinahe leeren Raum im Zentrum seines Labyrinths, um seine Erfindung zu demonstrieren. Dazu nimmt er zunächst ausgerechnet ein Stromkabel in die Hand. Daran hängt eines der beiden schwarzen Vierecke. Jedes Mal, wenn Marin Soljacic dieses Stromkabel an die Steckdose an der Wand anschließt, schaltet sich gleichzeitig das Fernsehgerät ein, das in der Mitte des Zimmers auf dem Tisch steht. Außer dem zweiten schwarzen Viereck hängt nichts an diesem Gerät.

"Jetzt kommt normalerweise der Moment, an dem die Zuschauer misstrauisch werden", sagt der MIT-Professor. Denn natürlich könnte es ja sein, dass in dem Fernseher ein Akku steckt und eines der beiden Vierecke eine Fernbedienung ist. Deshalb tauscht Soljacic den Fernseher gegen seinen Laptop aus, schließt das Viereck wieder an die Steckdose an - und entfernt den Akku aus dem Rechner. Das Gerät arbeitet weiter, als wäre nichts geschehen, ohne Kabel, ohne Batterie. Es funktioniert.

Strom auf Schwingen

Soljacics Erfindung basiert auf bekannten physikalischen Phänomenen. Eigentlich ist es verwunderlich, dass nicht schon früher ein Forscher auf die Idee gekommen ist, wie Strom drahtlos übertragen werden kann. "Weil es bisher einfach keine Verwendung für drahtlosen Strom gab, hat sich leider auch niemand damit beschäftigt", sagt Soljacic, und es klingt beinahe so, als würde sich der Physiker dafür entschuldigen wollen.

Durchbruch in der Elektrotechnik: Die neue Technik aus den USA orientiert sich am Werk eines Pioniers der Elektrotechnik. 1904 konstruierte Nikola Tesla auf Long Island vor New York einen Turm, mit dem er Strom quer über den Planeten übertragen wollte.

Die neue Technik aus den USA orientiert sich am Werk eines Pioniers der Elektrotechnik. 1904 konstruierte Nikola Tesla auf Long Island vor New York einen Turm, mit dem er Strom quer über den Planeten übertragen wollte.

(Foto: Foto: oh)

"Schließlich tragen die Menschen erst seit kurzem Handys, Computer, MP3-Player und Digitalkameras mit sich herum." Als Grundlage für seine Technologie, die er "Witricity" nennt (von "Wireless Electricity", also "drahtlose Elektrizität"), wählte der Professor die sogenannte Induktion. Dabei handelt sich um Magnetfelder, die schon heute über kurze Entfernungen elektrische Zahnbürsten drahtlos aufladen, Elektromotoren oder Magnetschwebebahnen antreiben und Kochtöpfe auf modernen Herdplatten heizen.

"Mir ist bewusst, dass sich viele Menschen über Elektrosmog Gedanken machen", sagt der Forscher. Doch elektromagnetische Strahlen, die etwa Mobiltelefone aussenden und wegen möglicher Auswirkungen auf die Gesundheit umstritten sind, entstehen bei "Witricity" nicht. "Magnetfelder als Grundlage der Technologie sind allgemein akzeptiert, seit vielen Jahren erprobt, und sie gelten für die Gesundheit als unbedenklich", sagt Soljacic.

Der Großteil des menschlichen Körpers würde gar nicht auf Magnetfelder reagieren, die restlichen Teile würden von der Technologie nicht beeinflusst werden, da sie auf einer anderen Frequenz schwingen, erklärt der Forscher, den offensichtlich nichts aus der Ruhe bringen kann, so sachlich, so nüchtern präsentiert er seine Erfindung.

Wie ein Sänger, der ein Glas zerspringen lässt

Im Inneren der schwarzen Vierecke, erklärt er weiter, befindet sich Kupferdraht, der zu einer Spule gewickelt ist. Eines der beiden Vierecke, die Quelle, steckt in der Steckdose, das andere ist an den Verbraucher - ein beliebiges Elektrogerät - angeschlossen. Dabei entsteht in der Quelle ein Magnetfeld, das mit einer Frequenz von zehn Megahertz schwingt, also exakt zehn Millionen Mal pro Sekunde zwischen Plus und Minus hin- und herwechselt. Die zweite Spule, der Empfänger, ist exakt an die erste angepasst, sodass sie genau auf derselben Frequenz zum Schwingen angeregt werden kann.

"Das können Sie sich wie bei einem Raum vorstellen, an dessen Wänden viele Weingläser stehen", sagt der Physiker. "Alle Gläser sind unterschiedlich hoch mit Wein gefüllt und haben daher verschiedene Resonanzfrequenzen." Wenn ein Opernsänger in dem Raum einen lauten Ton singe, der exakt so hoch ist wie die Resonanzfrequenz eines bestimmten Glases, so werde genau dieses zum Mitschwingen angeregt und könne sogar zerspringen - die anderen Gläser blieben davon aber unberührt.

Wenn Soljacic also die erste Spule einschaltet, springt das Magnetfeld auf die Empfänger-Spule über, die auf dieselbe Frequenz eingestellt ist. Dort erzeugt das magnetische Wechselfeld den Grundprinzipien der Physik zufolge ein elektrisches Feld, also Strom.

Für dieses Konzept hat Soljacic im September das begehrte MacArthur-Stipendium erhalten, das in Wissenschaftskreisen als das "Stipendium für Genies" gilt, und zwei große Risikokapitalgeber haben vier Millionen Dollar in sein Unternehmen investiert.

Strom auf Schwingen

Durchbruch in der Elektrotechnik: So funktioniert die drahtlose Stomübertragung.

So funktioniert die drahtlose Stomübertragung.

(Foto: SZ-Graphik: Burgarth, Quelle: MIT)

Anders als für elektromagnetische Strahlen stellen Wände oder Gegenstände zwischen Quelle und Empfänger kein Hindernis für Magnetfelder dar, eine Sichtverbindung ist nicht nötig. Auch Menschen oder Tiere können sich nach Angaben des Forschers gefahrlos zwischen den beiden Spulen bewegen. Der Prototyp kann Entfernungen von vier Metern überwinden, doch Soljacic arbeitet mit seinem Team daran, die Distanz zu erhöhen, um ein ganzes Zimmer mit Strom versorgen zu können.

Dann soll eine Quelle irgendwo an der Wand befestigt werden, und alle Geräte, die in den Raum gebracht werden, sollen daraus ihren Strom beziehen können. 200 Watt lassen sich bisher übertragen, und auch diese Leistung soll sich in den Monaten bis zur Markteinführung auf mehrere Kilowatt erhöhen.

Der Vorteil der Induktion ist dabei, dass sich die Empfänger-Spule auf wenige Zentimeter verkleinern lässt und sie somit auch in Handys und MP3-Player passt. Die Quell-Spule braucht dann nur entsprechend größer zu sein. Befindet sich kein Gerät in dem Raum, geht der Strom aus der Quelle auch nicht verloren. Anders als bei elektromagnetischen Strahlen bleibt das Magnetfeld nämlich an der Spule gebunden, wenn es keinen Empfänger gibt, der die Energie aufnehmen könnte.

Probleme bereitet es dem System hingegen, wenn die Geräte bewegt werden. "Wir arbeiten noch an einem Chip, der den Kontakt zur Quelle auch bei Bewegung aufrecht erhält", sagt Soljacic. Bis zur Markteinführung sollte das funktionieren, hofft er.

"Mehr als die Hälfte der Energie kommt durch"

Doch "Witricity" hat auch Kritiker. Sie bemängeln, dass von dem Strom, den die Quelle in die Luft schickt, nur ein viel zu geringer Teil beim Empfänger ankomme. Der Rest gehe beim Flug durch den Raum verloren, das sei ineffizient und führe zu höheren Energiekosten. "Mehr als die Hälfte der Energie kommt durch, das ist ausreichend", wehrt sich Soljacic. "Kaum jemand weiß, dass etwa bei Laptop-Ladegeräten bis zu 80 Prozent der Energie in Form von Wärme verloren gehen", sagt der Professor.

"Die Konsumenten interessieren sich nicht für die Effizienz." Für manche Anwendungen, die eine hohe Effizienz benötigen, wie etwa das Aufladen der Akkus eines Elektroautos, werde er aber eine Lösung finden, ist sich Soljacic sicher. Natürlich lägen noch viele Herausforderungen vor dem Forscher und seinem Team, aber "wer hätte sich vor wenigen Jahren vorstellen können, dass sich Daten über drahtlose Netzwerke versenden lassen", sagt Soljacic. "Bald wird es uns als vollkommen normal erscheinen, Strom durch die Luft zu übertragen."

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