Diskussion um das Beschneidungs-Urteil:Brachiale Aufklärung

Das Urteil zur Strafbarkeit der männlichen Beschneidung hat von der Religionsfreiheit im säkularen Staat wenig verstanden. Doch die meisten Kritiker des Urteils machen es sich viel zu leicht.

Andreas Zielcke

So herrisch wie Nietzsche den Philosophen "mit dem Hammer" gab, trumpfen die Kölner Richter nicht auf. Aber den Vorwurf, dass sie mit ihrem Urteil zur Strafbarkeit der Beschneidung eine rechtliche Aufklärung mit dem Holzhammer versuchen, müssen sie sich gefallen lassen. Grob und unbedacht brechen sie in das komplexe Verhältnis zwischen säkularem Staat und Religionsfreiheit ein.

Die Empörung, mit der Geistliche aller Couleur reagieren, ist nachvollziehbar. Doch das Urteil ist, da es sich um eine juristische Entscheidung handelt, primär an rechtlichen und säkularen Kriterien zu messen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das Strafrecht ist der falsche normative Ort, um den in der Beschneidung angelegten Konflikt zu lösen.

I. Die Diskussion und die Tatsachen

Die meisten Kritiker des Urteils machen es sich allerdings viel zu leicht. Das geht los mit Kommentaren, die bei den Kölner Richtern eine typisch deutsche Eingriffswut und Engstirnigkeit, wenn nicht gar antisemitische Motive ausmachen. Doch derlei Abfälligkeiten sind schon deshalb grundlos, weil Deutschland beim Infragestellen der religiösen Beschneidung nirgends den Vorreiter spielt. Finnland und Schweden verbieten sie zwar nicht ganz, knüpfen sie aber an enge Bedingungen.

Debatten um die Legitimität der rituellen Beschneidung sind im Westen seit langem aufgeflammt, vor allem in Großbritannien, den Niederlanden und den USA. In San Francisco unternahm man letztes Jahr den (vergeblichen) Versuch eines Bürgerentscheids, der zum Verbot der rituellen Beschneidung führen sollte. Australien hat sie in öffentlichen Krankenhäusern untersagt.

Und alt sind die innerreligiösen Debatten um die Beschneidung ohnehin. Weniger allerdings als die eher marginale islamische Debatte bewegt die innerjüdische Diskussion die Gemüter seit Jahrhunderten. Den besten Überblick gewährt das von Elizabeth Wyner Mark herausgegebene Buch "The Covenant of Circumcision" (Brandeis University Press, 2003). Angesichts der langen internationalen Diskursgeschichte ist die Unterstellung einer deutschen Spezialität lächerlich.

II. Popularität und große Tradition

Zu den ebenso häufigen Einwänden gegen das Kölner Urteil gehört es, auf die globale Verbreitung der Beschneidungspraxis und ihre uralte Tradition hinzuweisen, um so ihre evidente Daseinsberechtigung zu untermauern. Tatsächlich, so schätzt es die WHO, sind weltweit zwischen einem Sechstel und einem Drittel aller Männer beschnitten. Im Westen ist die Rate in den USA und Großbritannien am größten, allerdings mit stark abnehmender Tendenz.

In den USA fiel die Quote bei Neugeborenen allein von 2006 bis 2009 von 56 auf 32,5 Prozent. In Großbritannien waren zwischen den Kriegen noch gut ein Drittel der Männer beschnitten, jetzt sind es unter zehn Prozent.

Immerhin ist die weltweite Verbreitung nicht zu bestreiten, ebenso wenig wie die fünftausendjährige Überlieferung seit den alten Ägyptern und natürlich seit den alttestamentlichen Zeiten der jüdischen und dem mohammedanischen Jahrhundert der islamischen Religion. Aber folgt aus den großen Zahlen und ehrwürdigen Jahresringen auch nur das Geringste für den heutigen Geltungsanspruch der rituellen Beschneidung?

Selbstverständlich nicht. Die Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen, die weibliche Beschneidung und viele andere religiöse und kulturelle Traditionen der Repression, die alle ähnlich verbreitet oder so alt sind wie die männliche Beschneidung, haben gegenüber den heutigen Gleichheits- und Freiheitsrechten kein Argument mehr für sich.

Nicht Alter oder Popularität, sondern die Substanz der religiösen Begründung kann nurmehr den Ausschlag geben. Klar ist dabei aber, dass bei einem gewaltsamen Eingriff wie der weiblichen Beschneidung heute kein noch so bedeutsamer religiöser Gehalt mehr zur Rechtfertigung hinreichen würde. Darum kommt es darauf an, auch wenn dies von vielen bestritten wird, dass die Vorhautbeschneidung den Männern bei weitem nicht dieselbe Gewalt antut wie die weibliche Beschneidung dem Körper und der Psyche der Frauen.

Über den massiven Unterschied des Grades an Gewalt hinaus ist jedoch entscheidend (und das übersehen jene Kritiker), dass der Zweck der weiblichen Verstümmelung eben die Diskriminierung selbst ist - nämlich das Vereiteln der weiblichen Lust -, während die männliche Beschneidung definitiv nicht diskriminatorisch zu Lasten der Männer angelegt ist. Mit dem Argument, dass die Männer hier doch ebenso zu schützen seien wie die Frauen, kann man daher nicht kommen.

III. Die strafrechtlichen Argumente

Nicht nur die Kölner Richter, sondern die meisten Strafrechtslehrer haben sich darauf festgelegt, die rituelle männliche Beschneidung als strafbare Körperverletzung einzustufen. Das ist weniger erstaunlich, wenn man sieht, wie sicher und präzise sie sich in der strafrechtlichen Dogmatik bewegen, wie kenntnisarm aber an der Schnittstelle zur Religionsfreiheit.

Dass die Beschneidung jedenfalls den objektiven Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, ist in der Tat allerdings schwerlich zu verneinen. Die Gegenmeinung, das rituelle Abschneiden der Vorhaut sei ein allseits akzeptiertes "sozialadäquates" Verhalten und daher per se kein Straftatbestand, verstrickt sich in Widersprüche. Denn auch sie wertet die Beschneidung dann als strafbare Körperverletzung, wenn sie etwa vom muslimischen Vater des Kindes gegen den Willen der allein sorgeberechtigten Mutter veranlasst wird.

Dieses Beispiel, dem ein Urteil des OLG Frankfurts im Jahre 2007 zugrundeliegt, zeigt, dass die Frage der Strafbarkeit nicht auf der Tatbestands-, sondern auf der Rechtfertigungsebene zu entscheiden ist. Wer hat welches Recht, über die rituelle Beschneidung, also über die vorsätzliche Verletzung des kindlichen Körpers, zu befinden?

Der nächstliegende Rechtfertigungsgrund wäre die elterliche Berufung auf das "Kindeswohl". Doch der fällt aus. Für das physische Wohl ist dies offensichtlich, da es hier nur um nicht-medizinisch indizierte Beschneidungen geht. Aber auch für das Wohl im sozialen Sinne.

Mit diesem sozialen Kindeswohl ist gemeint, dass das nicht beschnittene Kind in seiner religiösen Gemeinde stigmatisiert wäre. "Unbeschnittene Jungen", stellt Necla Kelek sicherlich zutreffend fest, "werden in der türkischen Gesellschaft nicht akzeptiert". Um dem Jungen die Anerkennung unter den Glaubensbrüdern zu sichern, müsse er, so diese Begründung des "Kindeswohls", wie alle anderen auch beschnitten werden.

Doch dieser Gruppenzwang kann heute keine positive Begründung des Kindeswohls mehr tragen. Das statuiert nicht nur das internationale Übereinkommen für die Rechte des Kindes. Vielmehr wäre sonst jeder noch so zweifelhafte Brauch, der heranwachsenden Abweichlern spürbare Nachteile auferlegt, auf ewig zu perpetuieren. Das wäre wahrlich eine absurde Begründung des "Kindeswohls".

Damit bleibt nur die Religionsfreiheit als Rechtfertigungsgrund. Aber wessen Freiheit? Die der Eltern oder die des Knaben? Das Grundrecht der Religionsfreiheit steht auch dem Neugeborenen zu, doch den Eltern ist zugleich das Recht eingeräumt, über die religiöse Zugehörigkeit und Erziehung des Kindes zu bestimmen.

Zur Frage, ob das auch den religiös motivierten Eingriff in den Körper des Kindes einschließt, sagen die Gesetze nichts. An dieser Stelle verweisen viele, die den Eltern ein solches Recht zubilligen, darauf, dass sich auch die religiöse Erziehung, zumal wenn sie strenge Orthodoxie einfordert, tief in die geistige und psychische Entwicklung des Kindes eingräbt. Wirkt das nicht sehr viel folgenreicher auf das Kind ein als das körperliche Beschneiden? Wäre es daher nicht irrational, den Eltern dieses letztere, vergleichsweise harmlose Recht vorzuenthalten?

Doch erstens endet das Privileg der Eltern, die religiöse Erziehung zu bestimmen, stufenweise zwischen dem 12. und 14. Geburtstag des Kindes, um ihm die Chance möglichst früher weltanschaulicher Eigenständigkeit zu gewähren.

Zweitens geht das Kind im Regelfall in eine weltliche Schule und kann dort, so will es jedenfalls die schulische Idee, säkulare geistige und auch psychische Gegengewichte gegen eine religiöse Indoktrination aufbauen. Wie weit dieses Versprechen auch immer erfüllt wird, es wahrt die Option der Neutralisierung.

Die Beschneidung indes ist irreversibel, sie kann sich beim Austritt aus dem Glaubensverband vom positiven Identifikationsmerkmal zum untilgbaren körperlichen Makel wandeln.

Der Gegensatz zwischen dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und religiöse Selbstbestimmung auf der einen Seite und der elterlichen Religionsfreiheit auf der anderen Seite lässt sich darum nicht wegdiskutieren.

IV. Der säkulare, tolerante Staat

Wie also kommt man zu einem Ergebnis? Die Strafrechtsdogmatiker wollen diesen Gegensatz und damit die Frage, ob die Beschneidung nun eine gerechtfertigte oder aber eine strafbare Körperverletzung darstellt, mit einer "Abwägung" zwischen den kindlichen und elterlichen Rechtspositionen lösen. Doch mit dieser schlichten Methode verfehlen sie, egal welcher Seite sie schließlich zuneigen, die grundrechtliche Problemdimension.

Das Bundesverfassungsgericht entschied 1971 über einen Fall, in dem ebenfalls religiöse Gebote mit dem Strafgesetz kollidierten. Die Vorinstanz hatte einen Mann wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt, weil er sich als Angehöriger einer Sekte geweigert hatte, seine todkranke Ehefrau zur Bluttransfusion ins Krankenhaus zu bringen. Sein Glaube verbot ihm (wie auch der Ehefrau) solche Transfusionen; die Frau starb daraufhin.

Dennoch hob das Verfassungsgericht das Strafurteil auf: "Die sich aus Art. 4 GG ergebende Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung in weitesten Grenzen zu respektieren, muss zum Zurückweichen des Strafrechts jedenfalls dann führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische Bedrängnis bringt, der gegenüber die kriminelle Bestrafung, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, sich als eine übermäßige und daher seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde."

Die "schärfste der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, das Strafrecht", sei in diesem Fall "unter keinem Aspekt - Vergeltung, Prävention, Resozialisierung des Täters - eine adäquate Sanktion". Solche einschränkende Rücksicht war den Kölnern Richtern jedoch völlig fremd, als sie mit dieser schärfsten Waffe gegen die Religionsfreiheit vorgingen (auch wenn hier der Arzt und nicht die anstiftenden Eltern belangt wurden).

Mag die Beschneidungspraxis der Muslime und Juden aus laizistischer Sicht noch so archaisch anmuten, so ist sie doch so tief in ihrem Glauben verankert, dass die entwürdigende Sanktionskeule, mit der sie zu "Rechtsbrechern abgestempelt" werden, einer Vergewaltigung ihres Glaubens gleichkommt.

Fast noch fataler ist das Fehlen jedes Verständnisses dafür, was religiöser Pluralismus in einem auf Säkularität verpflichteten Staat bedeutet. In Frankreich gibt es das schöne Bonmot der "Laicisation de la Laicité".

Das will sagen, dass der Staat erst dann seine Säkularität voll ausgearbeitet und etabliert hat, wenn er die Religionsgemeinschaften nicht in geistige und politische Ghettos der Belanglosigkeit abschiebt, sondern sie nach ihren genuinen Regeln, Ausdrucksbedürfnissen und Überlieferungen auch öffentlich wirken lässt. Erst dieser anerkennende Respekt vor dem Nicht-Säkularen macht die Säkularität souverän - und umgekehrt für die Religionsgemeinschaften akzeptabel.

Den Religionen wird ohnehin eine harte Schizophrenie abverlangt. Sie müssen ihren universalistischen Glaubensanspruch nach innen behaupten und zugleich gegenüber anderen Weltanschauungen und nicht zuletzt gegenüber dem säkularen Rationalismus relativieren. Sie leben und wirken im Modus des Dissenses. Nichts ist hierzu aufschlussreicher als der Aufsatz von Jürgen Habermas "Kulturelle Gleichbehandlung - und die Grenzen des postmodernen Liberalismus" (in seinem Buch "Zwischen Naturalismus und Religion").

Die Frage, wie sich die Beschneidung mit den Rechten des Kindes verträgt, ist nur als Wechselspiel zweier grundverschiedener Perspektiven zu beantworten. Zum einen ist da der rechtsimmanent-säkulare Klärungsprozess, in dem auch der Gesetzgeber gefordert ist, zum anderen der religiöse jüdische und muslimische Diskurs. Am Ende müssen beide Perspektiven sich nicht decken, aber anschlussfähig sein. Unter dem Druck der Kriminalisierung kann das nur schiefgehen.

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