Die Grenzen der Erkenntnis:Wo keine letzte Gewissheit zu haben ist

Unsere Weltdeutungsbedürftigkeit ist Ursache aller Religion und Wissenschaft. Doch unser Gehirn verzerrt die Wirklichkeit zu Weltbildern. Deshalb gibt es natürliche Grenzen sinnvollen Fragens.

Martin Urban

Ein Schmetterling sieht, was er sieht, der Mensch glaubt, was er zu hören oder zu sehen meint. Um uns zurechtzufinden, müssen wir uns Bilder von der Welt machen, die aber nur Deutungen sind. Diese Weltdeutungsbedürftigkeit ist Ursache aller Religion und aller Wissenschaft - trotz mancher Unterschiede. Beide suchen und geben letztlich Antworten auf die Frage nach dem Wie und dem Warum.

Arp 273, UGC 1810

Arp 273, eine Gruppe von Galaxien, zeigt diese Aufnahme des Hubble-Teleskops. "Die Welt ist unendlich viel komplizierter, als sie uns erscheint."

(Foto: AP)

Viele Märchen der Brüder Grimm enden mit dem Satz: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Dahinter verbirgt sich der Grundgedanke der aristotelischen Logik, wonach entweder eine Aussage selbst oder deren Negation richtig sein muss. Ein Mensch zum Beispiel lebt oder er lebt nicht - ein Drittes gibt es nicht, tertium non datur. Die moderne Physik lehrt uns im Gegensatz dazu, dass sehr wohl unentschieden sein kann, ob eine Aussage falsch oder richtig ist. Es ist dies dann tatsächlich unentschieden, nicht etwa, dass wir die Wahrheit nur nicht wüssten.

Je nach Ansichtsweise erscheint uns zum Beispiel ein Photon als ein Licht-Teilchen oder als eine Welle. Beide Existenzformen schließen sich gegenseitig aus. Der Wiener Physiker Anton Zeilinger sagt: "Es ist ganz offenkundig sinnlos, nach der Natur der Dinge zu fragen, da eine solche Natur, selbst wenn sie existieren sollte, immer jenseits jeder Erfahrung ist." 1927 schrieb Werner Heisenberg in Konsequenz der aus der Quantenmechanik gewonnenen Naturerkenntnis über die Bahn eines Elektrons: "Die Bahn entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten." Die Beobachtung bestimmt, welches Bild der Natur wir bekommen.

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? fragte der Psychoanalytiker Paul Watzlawick bereits vor 35 Jahren. Er beobachtete, "dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist".

Auch Zeilinger kommt zu dem Schluss, es mache offenkundig "keinen Sinn, über eine Wirklichkeit ohne die Information darüber zu sprechen". Wir können die Natur nicht ermessen, womit zugleich jede Aussage, etwas sei übernatürlich, unsinnig ist. Anscheinend gibt es natürliche Grenzen sinnvollen Fragens. Die Welt ist unendlich viel komplizierter, als sie uns erscheint.

Die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler über das Universum ebenso wie über dessen Bausteine sind mittlerweile so abstrakt geworden, dass man sie sich nicht mehr vorstellen kann. Der Mensch hat zwar gelernt, dass man mit Hilfe der Mathematik die Welt in vielen Aspekten gut beschreiben kann. So weiß er etwa, dass alles, was passieren kann, auch irgendwann einmal passiert.

Aber er glaubt es nicht; nicht nur in Fukushima. Denn er hat keinen Sinn für den Zufall. Gerade kreative Menschen mit der Begabung, durch Assoziation Zusammenhänge aufzuspüren, sind besonders anfällig dafür, Zusammenhänge zu sehen, wo es keine gibt. Sie neigen dazu, auch den blinden Zufall als bedeutungsschwer wahrzunehmen.

Der Zürcher Neurowissenschaftler Peter Brugger folgert, dass aus einer überdurchschnittlichen Ausprägung des Mustersehens auch der Glaube an den Unsinn quasi als Nebeneffekt entstanden ist: "Glaube an Unsinn ist der Preis, den wir für Kreativität zahlen müssen."

Offensichtlich fällt es dem Menschen leichter, an Unsinn zu glauben, als mit Hilfe seines klugen Kopfes zu erkennen: Dies ist Quatsch. Das bewusste Ich ist eben nicht der Herr im Haus, unbewusste Kräfte sind mächtiger. Der Aberglaube bietet dem Menschen ein Mindestmaß an Gewissheit an, wo keine letzte Gewissheit zu haben ist. So lässt sich erklären, warum der Mensch seit Urzeiten Götter nach seinem Bilde schuf.

Forschungsergebnisse belegen, dass der Hang zur Spiritualität sich in der Evolution durchsetzte, weil er für den Menschen nützlich ist. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, es gebe keinen Gott.

"Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht", schrieb 1930 der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer. Der Physiker Werner Heisenberg ergänzte 1942, "dass wir ja gar nicht genau wissen, was das Wort 'Gott' und insbesondere, was das Wort ,es gibt' bedeutet.

Das Wort 'es gibt' ist ja ein Wort der menschlichen Sprache und bezieht sich auf die Wirklichkeit, wie sie sich in der menschlichen Seele spiegelt; über eine andere Wirklichkeit kann man nicht sprechen." Das sehen die Kirchen anders. Und so verwechseln sie ihre Gottesbilder mit Gott.

Viele Menschen leben unbeirrbar mit Weltbildern, die dem Weltverständnis vor zweitausend Jahren und früher entsprechen: Da wird zum Beispiel das Blut des seit dem 1. Mai seligen Papstes Johannes Paul II. als Reliquie verehrt. Oder als Spätfolge einer 1864 von Papst Pius IX. kodifizierten Vorstellung lehnen fromme Bundestagsabgeordnete die Präimplantationsdiagnostik ab. Denn: mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle werde der Keim mit einer "unsterblichen Seele" begabt. Dabei ist die Vorstellung einer "unsterbliche Seele" ein steinzeitliches Bild.

Warum hält der Mensch an solchen alten Bildern fest? Verständlich ist das, wenn der Anschein dafür spricht, die Sonne scheint ja tatsächlich "aufzugehen". Aber wieso glaubt man an das unverständliche Bild von der Trinität Gottes - des Vaters, des Sohnes, und des Heiligen Geistes? Oder an die Vorstellung einer Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Jesu bei jeder Messe? Offensichtlich gewöhnt man sich daran, dass es unendlich viel gibt, das man zwar nicht durchschaut, ohne es aber hinterfragen zu wollen.

Bereits das kindliche Weltbild entwickelt sich so: Wahr ist, was Mama und Papa sagen. Es ist freilich Aufgabe des Erwachsen-Werdens, die Wahrheiten der Eltern in Frage stellen zu können. Das muss auch mit den überlieferten Weltbildern geschehen, fällt aber schwer wie jegliche Emanzipation.

Es wäre hilfreich, wenn man sich auf ein Prinzip einigen würde, das der englische Philosoph und Theologe Wilhelm von Ockham im 14. Jahrhundert entwickelt hat: Wenn man einen Sachverhalt auf komplizierte oder auf einfache Weise erklären kann, solle man es zuerst mit der einfachen Erklärung versuchen und diese so lange beibehalten, wie sie den Fakten standhält. Für die Naturwissenschaftler ist dieser Gedanke selbstverständlich geworden.

Doch mit ihm ließen sich auch kirchliche Dogmen anders verstehen. Das Christentum etwa sieht sich in seinen Fundamenten als von Gott offenbart. Bereits in der Steinzeit vermittelten die Schamanen

zwischen Mensch und Gottheit. Sie konnten sich durch Musik, Tanz oder Drogen gezielt in einen von den Psychologen heute gut erklärbaren Ausnahmezustand versetzen, den sie als Gottesnähe verstanden. Im Sinne von Ockham kann man "Offenbarung" allerdings auch einfacher als "kreativen Akt" erklären, wie dies der Schweizer Theologe Othmar Keel tut: also nichts, das von oben kommt, sondern etwas, das im Kopf entsteht - so wie alle unsere Weltbilder.

Der Autor leitete von 1968 bis 2002 das Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung. Mit den Themen Religion, Glaube und Wissenschaft hat er sich in mehreren Büchern auseinandergesetzt - zuletzt in "Die Bibel. Eine Biographie" Verlag Galiani Berlin.

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