Die Bedeutung des LHC:"Vergleichbar mit Los Alamos"

Am Cern ist der riesige Teilchenbeschleuniger LHC gestartet - doch was ist seine wissenschaftshistorische Bedeutung? Ein Gespräch mit Klaus Hentschel.

Andreas Zielcke

Heute hat der weltweit größte Teilchenbeschleuniger am Cern in Genf seinen Betrieb aufgenommen. Die Physiker erhoffen sich weitreichende Erkenntnisse zum Aufbau und zur Entstehung der Materie, aber auch des Universums unmittelbar nach dem Urknall.

Die Bedeutung des LHC: Eine der Untersuchungen trägt den Namen "Alice", was nicht zufällig an Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" erinnert.

Eine der Untersuchungen trägt den Namen "Alice", was nicht zufällig an Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" erinnert.

(Foto: Foto: AFP/Cern)

Doch das Außergewöhnliche der Anlage, erklärt der Physiker und Wissenschaftshistoriker Klaus Hentschel, liegt nicht nur in den Erkenntniszielen - für die Hentschel ein sehr anschauliches Bild liefert. Es liegt vielmehr auch in der komplexen Organisationstruktur des Beschleunigers.

Folgenreich ist nicht mehr das einzelne brillante Forscherhirn, sondern die Kooperation all der "unsichtbaren Hände", Köpfe und Forschungsdisziplinen, die solche wissenschaftlichen Durchbrüche heute ermöglichen.

SZ: Welchen Rang haben die jetzt beginnenden Forschungen am Cern in der Geschichte der großen physikalischen Experimente? Handelt es sich nur um eine Steigerung der eingesetzten Energien und der erreichten Geschwindigkeiten der Teilchen oder erklimmt man eine ganz neue Stufe der Experimentalphysik?

Hentschel: Angesichts der Größenordnung der erreichbaren Energien ist es sicherlich eine Stufe der physikalischen Experimentierkunst, die bisher einmalig ist. Das betrifft nicht nur die Physik des Teilchenbeschleunigers selbst, sondern auch die Zahl und Vernetzung der zusammenarbeitenden Wissenschaftler und Techniker. Nach wie vor zählt der Skill des Einzelexperimentators sehr viel.

Doch dieser Skill, wie er noch die Physik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt hat, wenn der Forscher seine Experimente als Tabletop-Experimente auf einem Tisch aufbauen konnte, geht hier bei Experimenten am Cern ein in großangelegte Teamarbeit und komplexe forschungspraktische Logistik von Tausenden Mitarbeitern. Hierauf basieren die wissenschaftlichen Durchbrüche, die man sich am Cern erhofft, sie machen die neue Qualität und die unerhörte Leistung dieses Beschleunigers aus.

SZ: Das gilt aber für Desy in Hamburg und ähnliche Beschleuniger auch.

Hentschel: Natürlich. Überall in diesen Großanlagen arbeiten Theoretiker und Experimentatoren, Kernphysiker und Astrophysiker, Ingenieure und Verwaltungsleute und auch Politiker zusammen, die sehr verschiedene Kommunikationskulturen haben und zudem aus unterschiedlichen nationalen Kontexten stammen - auch aus politisch verfeindeten Nationen.

Es bedarf daher völlig neuer Kommunikationsstrukturen. Selbst das Internet hat sich bekanntlich aus Kommunikationsvarianten entwickelt, die am Cern entwickelt wurden. Die Öffentlichkeit übersieht meistens, wenn sie auf diesen riesigen Detektor und den 27 Kilometer langen Ring schaut, welche unglaubliche Infrastruktur und Kommunikationsleistung darin steckt.

SZ: Was aber erwartet die Laienwelt von diesen Großexperimenten? All die Hinweise auf die erreichten Energien, auf das Higgs-Boson und den Urknall machen ja das Unwissen darüber, um was es der Kernphysik geht, nicht geringer.

Hentschel: In der Tat bleibt die Faszination auf der Oberfläche, die Erkenntnisinteressen und Ergebnisse der theoretischen Physik bleiben den Laien unverständlich. Man kann ihnen aber andere Aspekte deutlich machen. Für einen solchen Beschleuniger wie am Cern braucht man etwa supraleitende Materialien, die den Materialwissenschaften - die sowieso zur Zeit boomen - einen enormen Schub verleihen.

Das gilt für alle technischen Aspekte der Anlage, etwa die Superrechner, die man braucht, um all die Hunderttausende Ereignisse, die in jedem Sekundenbruchteil bei den Experimenten passieren, zu registrieren und auszuwerten. Oder das ultrahohe Vakuum, in das die Ringe gebettet sind - alle diese einzelnen hochanspruchsvollen Komponenten sind auch für Laien sehr interessant. Und die kann man verständlich machen.

SZ: Dennoch möchte die Laienwelt auch an den Erkenntnisinteressen der Teilchenphysik, um die es bei diesen Experimenten geht, teilhaben - wie immer sie sich den Urknall und die Entstehung der Materie vorstellt.

Hentschel: Man kann sich das Problem des sogenannten Higgs-Bosons, dessen Existenz mit Hilfe des Beschleunigers nachgewiesen werden soll, vielleicht so zurechtlegen: Das ursprüngliche Universum besaß eine sehr hohe Symmetrie, die dann nach und nach heruntergebrochen wurde. Jedes Aufeinandertreffen von Kräften stellt einen Symmetriebruch dar. Und jeder Symmetriebruch ist verbunden mit dem Auftauchen eines Teilchens, in diesem Fall mit dem Auftauchen dieses Higgs-Teilchens, das überhaupt erst Masse erzeugt.

Stellen Sie sich das Teilchen auf der Spitze eines gerundeten Hutes vor. Dort liegt es zunächst masselos, sobald es aber herunterfällt, wird die Symmetrie gebrochen, weil es eben nur in einer Richtung herunterfallen kann, nicht in alle zugleich. Wenn es dann da unten in der gekrümmten Mulde des Hutes liegt, hat es eine Masse.

SZ: Nicht nur in der Laienwelt, sondern auch unter Wissenschaftlern lösen die geplanten Experimente am Cern aber auch Ängste aus. Es könnten Schwarze Löcher entstehen, die die reale Welt in sich verschlingen.

Hentschel: Derlei Ängste unter Wissenschaftlern werden in den Medien maßlos übertrieben. Die Befürchtungen sind aus physikalischer Sicht vollkommen unbegründet. Selbst wenn in einem winzigen Bruchteil einer Sekunde, sagen wir in 10-28 Sekunden, ein Ereignis aufträte, das einem Schwarzen Loch oder ähnlichen Strukturen gleichkäme, wäre das kein Problem, weil diese Strukturen sehr klein und eben sehr kurzzeitig auftreten und sich sofort wieder auslöschen würden.

Dass solche Ängste aufkommen, ist ein sich wiederholendes massenpsychologisches Phänomen. Denken Sie an das erste Auftauchen der Röntgenstrahlen 1896. Damals kursierten Ängste, man werde vollkommen durchsichtig und auf der Straße mit seinem Gerippe zu sehen sein. Bei der Entwicklung der ersten Atom- und Wasserstoffbombe befürchteten einige, dass die ganze Erde in Brand gesetzt werden könne. Die Aufgabe seriöser Medien ist es, solchen haltlosen Ängsten und hanebüchenen Weltuntergangsphantasien gegenzusteuern.

"Vergleichbar mit Los Alamos"

SZ: Längst arbeitet die Physik ja selbst mit vielsagenden Metaphern, zum Beispiel mit den Begriffen dunkle Materie, dunkle Energie, Urknall, Antimaterie, Annihilierung. Diese Begriffe mögen physikalisch definiert sein, sie öffnen aber der Laienwelt mächtige Assoziationsräume. Könnten sich nicht zuletzt solchen geradezu mystischen Assoziationen die Faszinationen, aber auch die dunkleren Ängste der Laien verdanken?

Die Bedeutung des LHC: Klaus Hentschel leitet am Historischen Institut der Universität Stuttgart die Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik. Hentschel hat unter anderem zur Geschichte der Physik und zum Verhältnis von Experiment und Theorie gearbeitet. Zu seinen Publikationen zählen "Der Einstein-Turm" (1992), "The Mental Aftermath: The Mentality of German Physicists 1945-1949" (2007) und der kürzlich von ihm herausgegebene Band "Unsichtbare Hände".

Klaus Hentschel leitet am Historischen Institut der Universität Stuttgart die Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik. Hentschel hat unter anderem zur Geschichte der Physik und zum Verhältnis von Experiment und Theorie gearbeitet. Zu seinen Publikationen zählen "Der Einstein-Turm" (1992), "The Mental Aftermath: The Mentality of German Physicists 1945-1949" (2007) und der kürzlich von ihm herausgegebene Band "Unsichtbare Hände".

(Foto: Foto: Universität Stuttgart)

Hentschel: Dieser Effekt ist nicht auf Laien zu beschränken. Linguistische Forschungen haben ergeben, dass auch Wissenschaftler durchaus mit Metaphern und Analogien arbeiten. Gerade Physiker benutzen nicht ungern solche vielsagenden Begriffe, so wie der Begriff "Quarks" für die Bausteine von Protonen und Neutronen ja von dem Physiker Murray Gell-Man aus "Finnegan's Wake" von James Joyce entlehnt wurde.

Physiker spielen mit den Assoziationsräumen, ja sie brauchen diese auch, denn auch sie denken in analogischen Strukturen. Und Metaphern können nun mal gedankliche Vernetzungen ausweiten.

SZ: Erstaunlich ist, wie wenig umstritten diese ungeheuer teueren Experimente in der Öffentlichkeit sind. Eher scheint man Kürzungen im kulturellen Bereich zu fordern, wenn die Mittel knapp werden, als bei solchen wissenschaftlichen Großexperimenten, obwohl diese sehr viel mehr Geld verschlingen.

Hentschel: Das ist keineswegs immer so. Das parallele amerikanische Projekt eines Großbeschleunigers ist durch den Kongress widerrufen worden. Vielen Abgeordneten war es zu teuer, auch angesichts des zu erwartenden wissenschaftlichen Ertrags. Hier zeigen sich inzwischen Unterschiede zwischen hüben und drüben in der wissenschaftspolitischen Kultur, im Grad des Verständnisses, vielleicht aber auch im Geschick der politischen Lobbyarbeit.

SZ: Und das reicht zur Erklärung der hier unbestrittenen Legitimität?

Hentschel: Es ist eben nicht nur der Ertrag der Experimente, sondern der gesamte sekundäre technische und auch wirtschaftliche Spin-off, der in Europa mit bewertet wird und der die Legitimation der Großanlage über die "esoterische" Physik hinaus erhöht. Möglicherweise sind diese Nutzen für die Finanzgeber in Europa sogar die ausschlaggebenden.

Vor allem aber gibt es auch einen politischen Nutzen: Europa rückt nach vorne. Bis jetzt lagen die größeren Hochenergieanlagen mit Ausnahme von Cern und Desy in den USA. Nun aber zeichnet sich eine Schwerpunktverlagerung der experimentellen Physik - und nicht nur der Hochenergiephysik, sondern all der involvierten Begleitwissenschaften - nach Europa ab.

Das zeigt, dass die führende Rolle Amerikas in den Grundlagenwissenschaften nicht immer so bleiben muss, wie sie es über Jahrzehnte war. Die USA haben in den letzten Jahren andere politische und militärpolitische Prioritäten für ihre Etats gesetzt, die auch auf die Wissenschaftspolitik durchschlagen. In einigen Jahren wird man die erhöhte wissenschaftliche Produktivität Europas auch an der Statistik der Nobelpreise ablesen können.

SZ: Apropos Nobelpreise: Im Blickpunkt stehen bei all den wissenschaftlichen Durchbrüchen, die man sich auch jetzt wieder am Cern erhofft, die großen Physikernamen. Sie allein stehen in der ersten Reihe. Ihnen wird man später die Nobelpreise verleihen, obwohl doch die Teams mit ihren Hunderten oder gar Tausenden Köpfen die eigentliche Leistung vollbringen. Sie haben sich in Ihren Schriften mit diesen "unsichtbaren Händen" beschäftigt. Doch die im Dunkeln sieht man nicht.

Hentschel: Wir haben bei diesen Hochenergiebeschleunigern die Extremform der "Big Science" vor uns. Trotzdem werden in dieser Wissenschaft stets nur die Spitzen des Eisbergs wahrgenommen wie etwa im Fall von Carlo Rubbia, der 1984 den Nobelpreis erhielt, aber eigentlich nur der Vorsteher eines Detektorteams war, das den Nachweis der W- und Z-Bosonen erbracht hat.

Insbesondere übersieht man aber nicht nur die anderen beteiligten Physiker, sondern erst recht die mitarbeitenden Ingenieure und Techniker; abgesehen davon gibt es für diese gar keine vergleichbaren Preise. Eigentlich müssten die Nobelpreise stets dem gesamten Team verliehen werden, so sehr die Leistung der brillanten Teamleiter jeweils zu würdigen ist, die neben ihrer theoretischen Qualifikation ganz eigene Skills der Großgruppenleitung beherrschen müssen.

"Vergleichbar mit Los Alamos"

SZ: Damit hebt sich der Begriff der Urheber- oder Autorschaft physikalischer Entdeckungen auf.

Die Bedeutung des LHC: Selbst die Suchmaschine Google zollt dem Start des LHC ihren Tribut.

Selbst die Suchmaschine Google zollt dem Start des LHC ihren Tribut.

(Foto: screenshot: google.de)

Hentschel: In den Reihen von 500 oder gar 1000 Autoren, die heute nicht selten ein wissenschaftliches Paper unterzeichnen, verschwindet der Einzelne nahezu. Aber das ist die Realität heutiger Großforschung.

SZ: Braucht es dann überhaupt noch das theoretische Superhirn eines einzelnen leitenden Physikers, der das ganze Erkenntnisprojekt anleitet und wissenschaftlich steuert?

Hentschel: Ich bin sehr skeptisch gegenüber dem Begriff solcher "Superhirne". Schon auf der Ebene der Theorie gibt es nicht mehr den einzeln vor sich hinforschenden Wissenschaftler wie zu Zeiten Einsteins, der auch noch in Princeton einsam mit wenigen Assistenten forschte.

Heute ist wissenschaftliches Arbeiten völlig anders angelegt, weil es auf das Zusammenkommen sehr vieler und verschiedener Kompetenzen ankommt. Darum muss heutige Forschung auch in entsprechenden Organisationsstrukturen stattfinden, die solche Kompositionen ermöglichen, indem man Teams von Wissenschaftlern zusammenstellt, deren Kreativität sich frei von Routine im Kontext eines Thinktanks entfalten kann.

Die Exzellenzcluster an den Universitäten nehmen dieses Modell auf. In diesem Typus der Kollaboration liegt die Zukunft der Wissenschaft.

SZ: Wann gab es historisch den entscheidenden Schnitt vom exzellenten Einzelforscher zum Exzellenzcluster der Naturwissenschaften?

Hentschel: Für die Physik, vor allem für die Hochenergiephysik war dies eindeutig das Manhattan-Projekt. Damals hatten sich die USA entschlossen, mit einem riesigen Aufwand, ja einem erheblichen Bruchteil ihres Bruttosozialprodukts die Herstellung der Atombombe zu bewerkstelligen. Das war wohl die Geburtsstunde dieser Art zentraler naturwissenschaftlicher Thinktanks.

In der Tat schaffte man es mit der gigantischen Zusammenstellung von Manpower und Ressourcen, innerhalb von vier Jahren das Projekt zum Erfolg zu bringen. Es war nicht das erste große Projekt, aber historisch der sichtbare Durchbruch des Großprojekts, das hinterher zum Vorbild für alle kommenden elementarphysikalischen und hochenergetischen Forschungsanlagen wurde.

Das heutige Cern ist in der Größenordnung vergleichbar mit Los Alamos. Ähnlich wird in der Aerodynamik, in der Luft- und Raumfahrtforschung vorgegangen, aber auch in der Automobiltechnik. Der vor sich hinarbeitende Alleinforscher ist nurmehr die sehr seltene Ausnahme. Die säkulare Tendenz, die sich im 20. Jahrhundert ausgeprägt hat, wird das 21. bestimmen.

SZ: Sie wollen also analog zum unbekannten Soldaten dem unsichtbaren Teammitglied ein Denkmal setzen.

Hentschel: Ganz genau - ohne allerdings nun das einfache Mitglied zu heroisieren. Es geht um das Verständnis der Zusammenarbeit bei Großprojekten, besonders um die meist übersehenen herausragenden Ingenieursleistungen bei solchen Grundlagenexperimenten. Was aber ebenfalls zu wenig gesehen wird, sind die neuen Formen interdisziplinärer Konstellationen.

Cern ist ein Projekt, bei dem sich solche neuen Koalitionen schmieden, die sich zwischen Materialwissenschaften und Chemie, zwischen Informatik und Vakuumtechnik, zwischen Elektrotechnik und Elektronik, zwischen Kern- und Astrophysik herausbilden. Das ist nicht nur Physik, das ist nicht nur Chemie oder Informatik, das sind Zwischenwissenschaften. Dem Urknall kommen nur diese neuen Allianzen näher, kein einzelnes Genie.

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