Der Truman-Show-Wahn:Leben auf Dauersendung

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Manche Menschen glauben, dass jedes ihrer Worte, jede Bewegung aufgezeichnet wird. Sie leben in dem Wahn, Darsteller einer täglichen TV-Show zu sein - wie Jim Carrey im Film "Die Truman Show".

Hubertus Breuer

Noch bevor der junge Mann die Lobby des Art-déco-Wolkenkratzers am Broadway betreten hatte, fühlte er sich beobachtet. Das ist nicht schwer in New York.

Das Leben als Hauptdarsteller einer Reality-Show: Truman Burbank (Jim Carrey) wird misstrauisch, als ihm ein Scheinwerfer auf den Kopf fällt. (Foto: Foto: dpa)

An vielen Kreuzungen überwachen Kameras das Geschehen, Polizeihubschrauber kreisen über den Häuserschluchten, Boote der Küstenwache patrouillieren auf Hudson und East River. Zudem stehen an Straßenecken oft Filmteams, und mit Fotoapparaten bewaffnete Touristen fallen täglich in die Metropole ein.

Doch als er schließlich dem Psychiater Joel Gold in einem kleinen Eckzimmer mit Blick über die Brooklyn Bridge gegenübersaß, glaubte er immer noch, dass jedes seiner Worte, jede Bewegung aufgezeichnet würde. Und auch Gold, der meist am Bellevue Krankenhaus der New York University arbeitet, hielt er für keinen Arzt, sondern für einen Schauspieler.

Sein ganzes Leben, glaubte der Besucher, liefere Material für eine Reality-Show mit Millionenpublikum. Und er wünschte sich sehnlich, dass die Sendung endlich abgesetzt würde.

Drehten sich Wahnvorstellungen früher um Geheimdienste, kosmische Strahlen oder göttliche Visionen, stehen heute oft neue Medien im Zentrum. Psychiater präsentieren auf Kongressen und in Fachjournalen Fallberichte, in denen Menschen das Internet, Computer, Mikrochips, das Fernsehen oder Mobiltelefone in ihre psychotische Weltsicht integrieren.

Reality-Shows, die Teilnehmer durch den Tag verfolgen, sind prädestiniert, Material für solchen Wahn zu liefern. Psychiater beobachten, wie sich mit dem kulturellen Umfeld auch die Geisteskrankheiten wandeln. Gleichzeitig debattieren sie, ob moderne Technologien nur neuen Stoff liefern oder womöglich manchen erst verrückt machen.

Über Golds Sofa prangt ein falscher Pollock. Im Regal steht zwischen Medizinbüchern eine Porzellanbüste. Auf deren Kopf sind nach der historischen Lehre der Phrenologie Charaktereigenschaften markiert.

Wahnthema Technologie

Hier empfing Gold 2004 erstmals einen Patienten, der ihm von dem Wahn berichtete, seine Welt sei eine Inszenierung für das Fernsehen. Vier Patienten mit ähnlichen Symptomen folgten - alle gut ausgebildet, männlich, im Alter von 25 bis 34 Jahren.

Ihre Diagnosen fielen unterschiedlich aus. Einer war manisch-depressiv, ein anderer schizophren, ein Dritter erlebte psychotische Schübe durch Drogenkonsum. Doch alle teilten die Wahnvorstellung, in einer Welt zu leben, wie sie der Kinofilm "Die Truman Show" von 1998 porträtiert.

In dem Streifen entpuppt sich das Leben des von Jim Carrey gespielten Truman Burbank als aufwendig produzierte TV-Schimäre. Drei Patienten von Gold erwähnten den Film. Deshalb taufte der Psychiater das Phänomen "Truman-Show-Wahn". Inzwischen hat Gold von 50 weiteren Patienten gehört. Einige Fälle wurden 2008 im British Journal of Psychiatry publiziert.

Technologie taucht als Wahnthema bereits im 19. Jahrhundert auf. So schilderte der schizophrene Friedrich Krauß in seinem autobiographisch gefärbten "Nothschrei eines magnetisch Vergifteten" (1852) und "Nothgedrungene Fortsetzung meines Nothschrei" (1867) die fixe Idee, Opfer einer von Regierung, Ärzten und Industriellen angezettelten Verschwörung zu sein.

Mittels eines Apparats aus der Ferne werde er magnetisiert, was, nach Krauß, zu "Entlebensgeisterung" führe. Der Analytiker Viktor Tausk veröffentlichte 1919 das Buch "Der Beeinflussungsapparat", in dem er den Fall der Wiener Philosophiestudentin Natalija A. dokumentiert, die sich von einer Maschine ferngesteuert wähnt.

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Später waren es Röntgenapparate, Telefon, Film und Radio, die in der Wahnvorstellung Betroffener Befehle aussandten oder der Überwachung dienten. In jüngster Zeit hat das Internet Spuren in Wahnideen hinterlassen.

So berichteten Psychiater der University of Texas von "dentalen Illusionen". Zwei Patienten bestanden darauf, dass in einem ihrer Zähne ein Mikrochip implantiert sei. Einer sendete angeblich ständig "Radio-, Gravitations- und Kurzwellen". Ein Mann sah sich durch das Netz so kontrolliert, dass er aus Verzweiflung einen Selbstmordversuch beging.

Die Welt als Computerspiel

Ein anderer hielt sich für einen mächtigen Webmaster, der mit Gedankenkraft durchs Internet surfen und Webseiten manipulieren konnte. Eine österreichische Patientin hielt sich für eine Webcam - alles, was sie sah, würde demnach im Internet verbreitet.

Gold zufolge ist der "Truman-Show-Wahn" nicht nur ein weiteres Beispiel technisch inspirierter Hirngespinste, sondern stellt etwas Eigenständiges dar. Wer annimmt, ein Leben wie Truman Burbank zu führen, weist zwar typische psychotische Elemente wie Paranoia und Größenwahn auf.

Völlig neu sei aber die Totalität: "Es ist nicht nur der Computer oder eine Organisation, die einen verfolgen - die ganze Welt ist beteiligt, alles ist Kulisse, selbst der behandelnde Arzt."

Doch nicht jeder, der an den Wahnvorstellungen leidet, bezieht sich auf Jim Carrey. So berichteten Psychiater von der Universität Bristol von einem Schizophrenen, der Autos stahl und Überfälle beging. Er hielt seine Welt für ein Computerspiel. Je mehr Autos er knackte, desto höher am Ende die Punktzahl.

Ärzten gegenüber gestand er, dass er bereit war, Menschen zu töten, da das sein Spielergebnis verbessert hätte. Ein Patient des Psychiaters Vaughan Bell vom Londoner King's College wiederum war überzeugt, in einer Matrix-Welt zu leben, wie sie die Trilogie der Wachowski-Brüder zeigt.

Leiden am Klimawandelsyndrom

Psychiater Thomas Stompe von der Universität Wien hält die Phänomene für alten Wein in neuen Schläuchen. In vergleichenden Studien zu Psychosen und Kulturen hat er immer wieder Verfolgungs- und Größenwahn erkannt - und, in geringerem Maße, Motive wie Schuld, Hypochondrie und Religion. "Technik und Medien bauen nur auf dieser Grundlage auf; man kann freilich nicht ausschließen, dass sich das ändern wird."

Joel Gold und sein Bruder Ian, Psychiatrie-Philosoph an der McGill University, vermuten hinter dem Truman-Syndrom noch mehr: Die Allgegenwart von Fernsehen, Kameras und Internet mag für manche Menschen so viel Stress bedeuten, dass sie die Obsession auslöst, ihre Welt sei auf Dauersendung.

Das würde heißen, die Medien treiben manchen in den Irrsinn. Vielleicht löst sich das Truman-Syndrom mit neuen Fernsehformaten aber auch wieder auf. Ist ein Thema nicht mehr aktuell, verschwindet es aus den Köpfen, wie der animalische Magnetismus oder die Telegrafie.

Neues Material gibt es immer wieder. 2008 berichtete der Psychiater Robert Salo aus Melbourne, ein 17-jähriger Patient leide am "Klimawandelsyndrom". Er lehnte es ab, Wasser zu trinken, da er glaubte, dass sonst Millionen Menschen sterben würden.

Letztlich zählt, den Patienten zu helfen. Gold verschrieb Psychopharmaka. Künftig würde der Psychiater gern kognitive Therapien anwenden - das heißt, den Betroffenen vorführen, wie bizarr ihre Vorstellung einer totalen Reality-Show ist.

Doch auch so kehrten fast alle in ihren Alltag zurück. Nur einer musste mehrere Monate in einer New Yorker Nervenheilanstalt verbringen, ehe er die Stadt verließ.

© SZ vom 10.06.2009/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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