Der Ethiker:Wie weit dürfen Heilversuche gehen?

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Der Philosoph Volker Gerhardt klärt die Argumente der Wissenschaftler und Politiker: Was sollen und was dürfen sie verlangen? Diesmal: Philosophische Auskünfte zu Tierversuchen.

Der technische Fortschritt hat nichts daran geändert, dass der Mensch auf die Mitwirkung der Tiere angewiesen ist. Zwar benötigt er sie kaum noch zur Fortbewegung oder als Lastenträger. Doch auf ihr Fleisch mag er so wenig verzichten wie auf ihre Gesellschaft. Dabei ist es nicht unerheblich, dass er in der Haltung gegenüber dem Tier sein moralisches Urteil übt. In der Liebe zum Tier pflegt der Mensch seine Liebe zu sich selbst, die, wie man weiß, nicht selten unglücklich ist. Die Tierversuche, ohne die es keine nennenswerte medizinische Forschung gäbe, sind daher eine elementare Herausforderung an das humane Selbstverständnis.

Allein in Deutschland werden jährlich 2,5 Millionen Tiere zu Forschungszwecken getötet. (Foto: Foto: ap)

Allein in Deutschland werden jährlich 2,5 Millionen Tiere zu Forschungszwecken getötet. Mehr als die Hälfte davon sind Mäuse. Auch Ratten, Katzen, Hunde und Affen sind dabei. Einige davon gibt es mit patentierten Defekten: ohne Fell, mit Fettsucht oder Diabetes, ja sogar als "Onkomaus", mit genetisch eingebauter Krebsanfälligkeit.

Wie können wir das rechtfertigen? Nur dadurch, dass wir unser Dasein erhalten und eigenes Leid mindern wollen. Niemand zögert, eine Mücke zu erschlagen, die sich gerade von seinem Blut ernährt. Jeder würde ein angreifendes Raubtier erschießen. Hier gilt der Vorrang der Selbsterhaltung, der auch auf die Gattung übertragen wird, weil der Einzelne nur in Verbindung mit seinesgleichen überleben kann.

Diese Selbsterhaltung ist eine Bedingung der Natur. Von ihr kann sich der Mensch nicht ausnehmen. Sie erklärt und sie rechtfertigt, dass er sein Leben auf Kosten anderen Lebens sichert. Das Dilemma des Menschen aber besteht darin, dass er einerseits die Fähigkeit erworben hat, fast unbeschränkt über anderes Leben zu verfügen.

Andererseits kann er nicht umhin, sich in die Lage seiner Opfer zu versetzen. Er hat eine Vorstellung davon, was er ihnen zufügt. Mitgefühl und Selbstachtung nötigen ihn, das durch ihn verursachte Leid so gering wie möglich zu halten. Darin liegt ein ethisches Gebot, das den Menschen zum Tierschutz verpflichtet. Dazu gehört, Versuche an Tieren zu begrenzen: sie auf die Erprobung nichtkosmetischer, medizinisch notwendiger Verfahren zu beschränken und alternative Testmethoden zu entwickeln.

Die Gentechnologie, die es erlaubt, die lebensnahe Wirkung von Stoffen an Gewebeproben zu überprüfen, lässt hoffen, dass dies keine leere Forderung ist. In klinischen Studien werden Wirkungen und Nebeneffekte auch am Menschen erforscht: an freiwillig teilnehmenden Patienten in einem kontrollierten, experimentellen Umfeld. Das ist mit Tierversuchen nicht vergleichbar.

Wie aber ist die Lage einzelner einzuschätzen, deren Not so groß ist, dass sie die klinische Erprobung nicht abwarten und sich selbst aus Verzweiflung zu Versuchsobjekten machen? Es sind vornehmlich als unheilbar angesehene Krebspatienten, die zu nicht ausreichend erprobten und nicht zugelassenen Mitteln greifen. Ein Beispiel ist das nach ersten Versuchsreihen als Krebszellenkiller gepriesene Dichloracetat.

Deutschland ist Debattenland. Der Philosoph Volker Gerhardt, Mitglied des Deutschen Ethikrats, klärt die Argumente der Wissenschaft und Gesellschaft: Welche Ansprüche sollen und dürfen sie stellen? (Foto: Foto: oh)

Noch weiß man wenig über die Wirkungsweise an Krebspatienten und kann kaum etwas über Nebenwirkungen sagen. Gleichwohl wird es mit einer einfachen Rezeptur im Internet vertrieben.

In extremen Lagen des Lebens versagt das moralische Urteil. Wer will einen Todkranken tadeln, wenn er nach einer vermeintlich letzten Hilfe greift? Was kümmern ihn Nebenfolgen, wenn die Hauptfolge der Erhalt des eigenen Lebens ist? Den Online-Anbieter, der das riskante Mittel leichtfertig propagiert, hat man zur Verantwortung zu ziehen, aber nicht den Patienten, der auf eine letzte Chance hofft.

Wer Menschen vor dieser Verzweiflungstat bewahren will, kann im Selbstversuch keine Alternative zum Experiment mit Tieren erkennen. Selbst wenn der Todkranke am Leben bleibt, können die Nebenfolgen schrecklich sein. Darüber haben ihn Ärzte aufzuklären. Die medizinische Forschung aber darf im Interesse der Menschen auf eine umfassende Prüfung der Therapien nicht verzichten, auch wenn dafür Tiere leiden müssen. Der Mensch muss die Tragik auf sich nehmen, seinem eigenen Leben Vorrang zu geben, obgleich er von den Wunden weiß, die er sich und anderen schlägt. Nur sofern er selber lebt, haben Mitgefühl und Vernunft eine Chance.

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