Das Böse:Eine Reise in die Abgründe der Seele

Was macht einen Menschen zum Massenmörder? Hirnforscher, Genetiker und Psychologen sind dem Grauen auf der Spur.

Karin Steinberger

Plötzlich ist er da, Häftling 97A5810, setzt sich, legt seine Unterarme auf den Besuchertisch, rechts in der Ecke stehen Aufseher, links hält ein Gefangener Händchen mit seiner Freundin.

Andrej Chikatlio

Der Russe Andrej Chikatlio war 42 Jahre alt, als er das erste Mal einen Menschen tötete. Insgesamt soll er mehr als 50 Menschen getötet haben, nachdem er ihnen Lippen, Penisse und Brüste abgebissen hatte.

(Foto: Foto: Reuters)

Richard Timmons lächelt. Er hat einen weißen Pulli an, weiße Turnschuhe, eine weiße Kappe. So viel Weiß. Wie auf seinem Hochzeitsfoto, das bei der Mutter im Album klebt.

An der Gefängniswand hinter ihm hängt ein großer Schlumpf mit Fackel. Es ist, als hätte jemand die falschen Requisiten mitgebracht.

Der Schlumpf lächelt, Richard Timmons lächelt, dann legt er seinen Kopf auf seinen Arm, wie ein kleines Kind.

"Ein Monster, verschlagen, kaltblütig und krankhaft egozentrisch"

Richard Timmons, den seine Mutter noch heute "Big Richy" nennt. "Big Richy", von dem der Bezirksstaatsanwalt in Queens, Daniel Saunders, sagt: "Ein Monster, verschlagen, kaltblütig und krankhaft egozentrisch. Ich habe schon vieles gesehen. Typen, die bei Wendy's sieben Kinder abgeknallt haben, aber keiner war so böse wie dieser Mensch."

Da ist es, das Wort, das sie normalerweise alle meiden, Staatsanwälte und Psychologen, Gehirnforscher und Genforscher. Das Böse - undefinierbar, ungreifbar. Wo sitzt es? Wo beginnt es? Woher kommt es? Wo bekämpft man es? Wann benennt man es?

Es ist kein Zufall, dass man auf der Suche nach dem Bösen in dieser gottverlassenen Gegend landet, im Norden der USA, kurz vor der kanadischen Grenze, in dunkelgrün überzogenem Hügelland. Sie haben hier in Dannemora nichts anderes. Sie leben vom Übel dieser Welt.

Die Gemeinde hat sich um die helle, hohe Mauer der Clinton Correctional Facility herumgelegt wie eine Decke. Tankstelle und Hochsicherheitsgefängnis. Mehr gibt es nicht. Manche nennen diese Gegend "New Yorks Sibirien", weil man hier im Staat New York selbst im Sommer fröstelt.

In diese Kälte hinein spricht Richard Timmons. Redet von seinem neuen Glauben und wie sie ihn, den Moslem, schikanieren; redet von seinem Hass auf Anwälte und wie sie ihn, den Unschuldigen, betrogen hätten; redet von seinen Büchern und wie sie ihn, den Unfehlbaren, berühmt machen werden.

Redet so vieles, doch nur über sich. Redet stundenlang, doch nicht einmal über seine Familie.

Diese Familie, die es nicht mehr gibt. Seine Frau Annita Stewart, seinen Stiefsohn Sharrone, seinen Sohn Aaron, dessen Bild bei der Großmutter an der Wand hängt, in einen weißen Matrosenanzug gepackt. Verhuschtes Kind, dem der Kopf abgehackt wurde an jenem Abend, für den der Vater dreimal lebenslänglich sitzt und an den er sich nicht erinnern mag: den 8. Juni 1997. Ein Sonntag.

"Es war abscheulich"

Richard Timmons sagt, es gebe nichts zu sagen. Frisch geduscht wartete er auf die Polizei, der Kopf seiner Frau war auf dem Ehebett aufgebahrt, darüber Schmierereien von seinem Blut, aus sich selbst zugefügten Wunden: "The Lost Boys is your man."

Nie wird Bezirksstaatsanwalt Saunders den Fall vergessen: "Erst hat er seine Familie abgeschlachtet, dann hat er alles so hingedreht, dass er davonkommt. Es war abscheulich."

Richard Timmons sagt, es gebe nichts zu bedauern. Dann redet er von Drogen, von Liebhabern und von seinem 35-inch-Mitsubishi-Fernseher. Von Schuld kein Wort, auch nicht von Reue. Michael Stone kennt das. Die meisten Menschen, mit denen er sich beschäftigt, benutzen dieses Wort nicht. Sie kennen das nicht: Mitgefühl.

Skala des Bösen

Wer dem Bösen auf der Spur ist, landet zwangsläufig bei Michael Stone, Professor der Psychiatrie an der Columbia Universität, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen. Er hat sich umgeben mit Grausamkeiten, hat seine New Yorker Wohnung voll gestopft mit Mörderbiografien.

Er hat den Begriff "evil" wieder gesellschaftsfähig gemacht, hat den schlimmsten Verbrechern Nummern zugeordnet, hat ihnen einen Platz gegeben in seiner Skala des Bösen: "The Gradiations of Evil".

"Kommen Sie", sagt er, "gehen wir das schnell mal durch." Es werden Stunden. Stunden mit Massenmördern, Leichenschändern, Kannibalen. Ian Brady, Charles Manson, Ted Bundy, Marc Dutroux, er hat sie alle eingeordnet in die Kategorien 1 bis 22.

"Wir reden hier von Menschen, die Unvorstellbares machen, immer und immer wieder, Menschen, die wissen, was sie tun und die es ohne Zwang in Friedenszeiten tun", sagt Stone.

Es sei an der Zeit, das Böse zu benennen, weil es wichtig sei zu verstehen, dass es Taten gebe, bei denen keine psychologischen oder sozialen Erklärungen mehr greifen; Täter, bei denen keine Behandlungen mehr nutzen. Kein Plädoyer für die Todesstrafe soll das sein, aber eines dafür, dass es Menschen gibt, die man für immer aus der Gesellschaft entfernen müsse. Unheilbar böse Menschen.

Eine Reise in die Abgründe der Seele

Seitdem ist es wieder auferstanden, das Böse. An der New York University hat sich ein Team um den Gerichtspsychologen Michael Welner daran gemacht, die "Depravity Scale" zu erstellen - die Skala der Verdorbenheit, die das Böse einordnet anhand der makabren Details eines Verbrechens.

Das Böse: Der belgische Kindermörder Marc Dutroux, in dessen Verliesen mehrere Kinder verhungerten.

Der belgische Kindermörder Marc Dutroux, in dessen Verliesen mehrere Kinder verhungerten.

(Foto: Foto: dpa)

Man wolle Richtern einen Leitfaden an die Hand geben, sagt Welner, will sie von dem undurchschaubaren Wust der Begrifflichkeiten befreien. Die New York Times schrieb: "Für die Schlimmsten von uns könnte die Diagnose böse sein."

Wenn Michael Stone sich durch den Horror arbeitet, macht er Geräusche, er juchzt leise auf, schnurrt Namen und Zahlen und Foltermethoden herunter, bleibt bei Kategorie 6 hängen, Issei Sagawa. Es folgt ein Lacher wie ein Huster. "Eine eigenartige Person, er wollte nicht verstehen, dass man kein Menschenfleisch isst", sagt Stone, lacht, hustet, lacht, kann gar nicht mehr aufhören.

"Eine böse Tat, aber noch kein böser Mensch"

Sagawa, der in Paris eine Frau erschossen, zerschnitten, geröstet und mit Senf verspeist hat. "Eine böse Tat, aber noch kein böser Mensch", sagt Stone, klickt an dem für 28 Morde verurteilten Ted Bundy und dem 48fachen Mörder Gary Ridgway vorbei, noch weiter nach hinten, dorthin, wo die Verbrechen so unappetitlich werden, dass es laut Stone niemanden mehr gibt, der das Wort böse nicht benutzen würde. Bis hinunter zu den Zweiundzwanzigern.

Reich der Männer. Nur wenige Frauen haben es in diesen Abgrund geschafft. Theresa Knorr zum Beispiel, die ihre eigenen Töchter jahrelang folterte, sie verbrannte, einsperrte und verhungern ließ.

"Die sadistischste Mörderin seit der ungarischen Gräfin Erzsébet Báthory, die mehr als 600 Jungfrauen ermordete, dabei Orgasmen hatte und in dem Blut ihrer Opfer badete. Sie dachte, dadurch wird sie schöner.

Tja", sagt Stone. Ansonsten sind Gewaltverbrechen fast ausschließlich Sache der Männer, 90 Prozent, so Stone. Noch etwas sagt er: "Die Wahrscheinlichkeit, vom Stiefvater verletzt oder getötet zu werden, ist 70-mal so groß wie vom eigenen Vater. Da sind wir nicht besser als die Löwen, die die Kinder des Vorgängers töten."

Sagt er und klickt weiter zu Jeffrey Dahmer, in dessen Wohnung sie einen Kühlschrank voller Köpfe fanden, zu dem belgischen Kindermörder Marc Dutroux, in dessen Verliesen Kinder verhungerten, zu dem russischen Kannibalen Andrej Chikatilo, der mehr als 50 Menschen getötet haben soll, nachdem er ihnen Lippen, Penisse und Brüste abgebissen hatte. Und dann Ian Brady.

"Ja, Brady. Einer der Allerschlimmsten, hat mit Myra Hindley in England wer weiß wie viele Kinder gefoltert, vergewaltigt, getötet. Hat alles aufgenommen und es sich immer wieder angehört. Mord auf der Wiederholtaste", sagt Stone, schaut sich Bradys Foto an.

Ein junger Mann, trotziger Blick. Wurde als Baby von einem netten Ehepaar aufgenommen, kein Missbrauch, keine Demütigungen, nichts, was erklären könnte, aber er war aggressiv, schwierig, begann damit, sich für die Nazis zu interessieren, für Nietzsches Übermensch; vergrub Hasen und Katzen im Boden, ließ ihre Köpfe rausstehen, fuhr mit dem Rasenmäher drüber.

Eine Reise in die Abgründe der Seele

Das Böse: Im 18. Jahrhundert schloss der deutsche Arzt Franz Joseph Gall von der Schädel- auf die Hirnform und glaubte, so den Charakter zu erkennen.

Im 18. Jahrhundert schloss der deutsche Arzt Franz Joseph Gall von der Schädel- auf die Hirnform und glaubte, so den Charakter zu erkennen.

(Foto: Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Museums für Völkerkunde Hamburg)

"Ich würde sagen, normale Kinder machen so etwas nicht, außer irgendwas ist falsch. Er ist das beste Beispiel für böses Saatgut", sagt Stone.

Bei Brady gibt es ihn nicht, den sozialen Faktor. Wie etwa bei Charles Manson, den die eigene Mutter für eine Flasche Bier verkauft hat, oder bei der männermordenden Aileen Wuornos, die mit 14 geschwängert wurde.

An der Universität Liverpool haben sie belegt, dass viele Serienkiller in der Kindheit selbst Opfer waren. 63 Prozent wurden sexuell missbraucht oder misshandelt, 45 Prozent trugen schwere Kopfverletzungen oder andere körperliche Schäden davon. Bei Michael Stone gibt so etwas Abzug und Einstufung in eine leichtere Kategorie.

Aber bei Brady gibt es keinen Abzug, keine Runterstufung. Stone sagt: "Es ist faszinierend, ich bewundere diese Geschichten auch. Es macht einem so viel klar über unsere Spezies. Es gibt alles, es gibt Hitler, es gibt Mozart. Manche Typen schlagen eine verdammte Kerbe in unser Sozialgefüge. Aber sie lehren uns etwas über unser Hirn, wie es arbeitet."

Richard Timmons lächelt

Dann kommt er zu Richard Timmons. Er sagt "quelle délicatesse", als er von dem aufgebahrten Kopf der Ehefrau hört, ordnet ihn über Charles Manson, aber unter Jerry Brudos ein, den "Lust-Killer", der auf die Frage, ob er keine Reue empfinde, wenn er an seine Opfer denke, ein Stück Papier zusammenknüllte und sagte: "Ich empfinde so viel für diese Frauen wie für diesen Papierklumpen." Timmons, also ein Achtzehner.

Richard Timmons lächelt. Er hat im Gefängnis viel gelesen, weiß, dass es zu einer typischen Mörderbiografie dazugehört, als Kind Tiere gequält zu haben. Weiß, dass Wissenschaftler im Gehirn nach Gründen suchen. Weiß, dass ein Geständnis alles festlegen würde. Er bleibt dabei, sich nicht zu erinnern. Dafür hat sich die Staatsanwaltschaft ein Bild gemacht von dem Tag, an dem er hinaufging in seine Wohnung in Long Island und tat, was zu tun war.

Es fing damit an, dass er seine Frau Annita Stewart schlug, wie schon in den Jahren davor. Im Sommer 1996 hatte er ihr die Augenhöhle zertrümmert, sie zu Hause mit den Kindern eingesperrt, mit Toast und Erdnussbutter.

Als sie Tage später endlich ins Krankenhaus durfte, schraubten die Ärzte eine Titanplatte in ihren Kopf, um Halt zu finden für den Augapfel. Als sie entlassen wurde, haute er ihr wieder ins Gesicht, schlug ihren Kopf durch die Glasscheibe im Wohnzimmer seiner Mutter. Seine Frau fand endlich den Mut für eine Anzeige, er kam ins Gefängnis, kam raus, weil sie der Mut wieder verließ.

Und da war er, acht Tage nach seiner Entlassung. Es war der 8. Juni 1997. Es war Sonntag, es war spät, er schlug auf seine Frau ein, bis sein Stiefsohn Sharrone kam, im Schlafanzug, 13 Jahre alt.

Doch es war kein Halten, er spürte wohl diese Hitze in der Brust, "als würde jemand ein Feuerzeug hinhalten, 120 Fahrenheit". Er hat Zahlen gefunden für das, was ihn beherrscht, wenn er sich nicht beherrscht. Im Fernseher lief Jim Carrey, "Ace Ventura 2". Lustige Tiergeräusche. Irgendwann verwischten sich die Schreie des Films mit denen der Realität. Dann war Ruhe.

Timmons sitzt da, hinter ihm lächelt der Schlumpf. Timmons möchte Chips, also holt man Chips aus dem Gefängnisautomaten. "Wo suchen sie es denn, das Böse?", fragt er.

Lutz Jäncke holt ein Gehirn aus dem Regal, ein schweres, angestaubtes Plastikhirn, nimmt es auseinander, tockert mit einem Stift hinein in das hellgraue Geglibber und sagt: "Hier vorne, im präfrontalen Kortex, gleich oberhalb der Augen." Dann steckt der Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich das Hirn wieder zusammen.

Menschen ohne Gefühlsbremse

Wenn man ihn richtig versteht, sucht er in diesem Geglibber nach Antworten.

Denn genau hier, oberhalb der Augen, vermuten die Gehirnforscher den Bereich, der für das soziale Verhalten verantwortlich ist: Aufmerksamkeit, Erregung, Gefühl, das Empfinden von Mitleid, das Gewissen.

All die Dinge, die bei Menschen wie Ian Brady und Richard Timmons offensichtlich nicht funktionieren.

Die meisten von ihnen gelten als Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, die weniger als fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber für mehr als 70 Prozent der schweren Verbrechen verantwortlich sind und für die der kanadische Psychologe Robert Hare eine Art Checkliste erstellt hat: oberflächlicher Charme, übersteigertes Selbstwertgefühl, krankhaftes Lügen, Neigung zum manipulativen Tricksen, fehlendes Gewissen, seichte Gefühlsregungen, Mangel an Empathie, Allmachtsgefühle.

Psychopathen genannt, Menschen ohne Gefühlsbremse. Hinter Lutz Jäncke stehen Bücher mit Titeln wie: "Kopf-Arbeit" und "The assymetric brain", am Computer bauen sich Bilder auf und verschwinden wieder: ein Countrysänger, ein Opa mit Enkel, Natur, Babys im Brutkasten, ein küssendes Paar, der Kopf einer Leiche mit einer Schnittwunde, noch eine Leiche, übel zugerichtet.

Eine von Jänckes Mitarbeiterinnen stöhnt, dreht sich weg. "So reagiert ein normaler Mensch, wir leiden mit. Bei Psychopathen tut sich da nichts", sagt Jäncke. Es ist das Gehirn, das sie verrät.

Hier in Zürich haben sie viele Arten, Menschen zu durchleuchten. Sie setzen ihnen Kappen auf, aus denen bunte Drähte hängen, legen sie in Kernspintomografen, sie messen ihre elektrischen Gehirnströme, ihren Puls, ihre Schweißbildung.

Sie zeigen ihren Testpersonen nette Bilder, dann Leichen, sie lassen sie Karten spielen, dann hoch verlieren, sie jagen sie im Fahrsimulator durch Achterbahnen und Straßen. "Bei uns geht es um das vegetative Nervensystem, das reagiert sofort."

Dann breitet Jäncke Bilder fremder Gehirne auf dem Tisch aus, zeigt auf eines, das rot glüht während der Achterbahnfahrt. Daneben das Hirn eines Psychopathen, das in blauer Kälte vor sich hindümpelt, es ist dieselbe Achterbahnfahrt, null Emotion.

"Das nenne ich auffällig", sagt er, räumt die Hirne weg und schränkt gleich wieder ein. Man dürfe nicht vergessen, dass das menschliche Gehirn extrem komplex sei.

Bei traumatisierten Menschen und Kleinkindern stelle man ähnliche Dysfunktionen fest. Und weder sei jeder Straftäter ein Psychopath noch jeder Psychopath ein Straftäter.

Eine Reise in die Abgründe der Seele

Bombenentschärfer, Politiker, Wirtschaftsbosse, für gewisse Funktionen seien Psychopathen perfekt, auch für gewisse Lebenssituationen, Krieg zum Beispiel.

Dann spricht Jäncke von Prägungsprozessen und von Fehlprogrammierungen, von den verkommenen Waisenkindern in Rumänien, deren Gehirne alle leichter waren als normal - wegen der Vernachlässigung. "Das Gehirn ist ein plastisches Organ, ein Leben lang. Und jede Tätigkeit hat Konsequenzen im Hirn", sagt er.

Man kann also etwas tun im Täterhirn? Operativ, durch Erziehung? Werden Wissenschaftler also irgendwann in Zukunft in unseren Hirnen herumfuhrwerken? Und ist das nicht eine Horrorvorstellung?

Lutz Jäncke sagt: "Wir manipulieren doch jetzt schon wie die Wilden, Manipulation ist unser Leben, selbst bei der Paarfindung."

Sie haben schon früher nach Gründen im Kopf gesucht, haben Mörderschädel vermessen. Der deutsche Arzt Franz Joseph Gall gab den Sinnen Ende des 18. Jahrhunderts feste Orte. Den "Würge- oder Mordsinn" vermutete er oberhalb der Ohren, in Wulsten, die er ertasten konnte.

Er glaubte, von der Schädelform auf die Hirnform rückschließen zu können, bestimmte 27 Zentren, wurde jedoch mit Vorlesungsverbot belegt, von seiner Zunft verstoßen, widerlegt. Und der italienische Arzt und Psychiater Cesare Lombroso, der die Lehre des geborenen Verbrechers begründete, ging mit Zirkel und Meterstab ans Werk.

Zusammengewachsene Augenbrauen waren für ihn Beweis für eine blutrünstige Entwicklungsstufe. Auch er wurde abgelehnt, widerlegt. Heute gilt er als einer, der einen richtigen Ansatz maßlos übertrieben und über die Jahre verhängnisvoll belegt hat. Jetzt suchen sie wieder im Kopf.

Gibt es biologische Ursachen für das Böse?

Es war der Psychologe Adrian Raine von der Universität Südkalifornien, der als Erster in ein Gefängnis ging, 41 Mörder mihilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) untersuchte und feststellte, dass bei ihnen das Frontalhirn Aggressionsimpulse aus dem limbischen System fast ungehindert passieren ließ.

Bei 21 als Soziopathen eingestuften Tätern war das Volumen im präfrontalen Cortex sogar 11 bis 14 Prozent kleiner als bei "normalen" Menschen. Gibt es biologische Ursachen für das Böse?

Raine ist seitdem schwer zu erreichen und auf Fotos meist von Gehirnen umzingelt.

Adrian Raine sagt: "Wenn man davon ausgeht, dass diese Menschen nicht für ihre Gehirnschädigung verantwortlich sind, sollten wir sie dann für ihre Verbrechen voll verantwortlich machen?" Die Times stellt die Frage: "Böses Hirn oder böse Person?" Immer öfter versuchen amerikanische Anwälte, Straftäter mit PET-Scans zu entlasten. Der Bremer Professor für Verhaltenspsychologie, Gerhard Roth, sagt: "Das Prinzip der moralischen Schuld muss aufgegeben werden."

Eine Reise in die Abgründe der Seele

Alles weit weg von Schlumpf und Kälte und Dannemora. Richard Timmons findet das albern, das mit dem Kopf und dem Bösen und dem Menschen als Sklaven des Hirns.

Er hält sich für unbesiegbar, unangreifbar, er schreibt gerade an einem Buch, in dem ein moslemischer Gefangener aus dem Gefängnis entlassen wird und Rache übt. Es ist klar, dass viel Blut fließen wird.

Sie suchen das Böse? Han Brunner schweigt. Er ist ein stiller Mann. Als der Molekularbiologe aus Nijmegen doch anfängt zu reden, wiegelt er erst einmal ab. Nein, nein, man könne das, was er da entdeckt habe, nicht Aggressions-Gen nennen, das sei wieder so eine typische Überinterpretation.

"Wenn ein Gen unser Handeln beeinflusst, heißt das noch nicht, dass all unser Handeln genetisch ist", sagt er, dann ist wieder Ruhe.

Berühmt geworden ist er trotzdem, weil sie eines Tages einfach in sein Büro spazierte: die Familie mit dem kaputten Gen. 1987 war das, als eine Frau kam und um Hilfe bat. Man habe, sagte sie, Probleme mit den Männern der Familie, seit Generationen schon.

Han Brunner sah sich die betroffenen Männer an, sie waren nicht auffällig. Doch die Frauen waren hartnäckig, erzählten von Aggressionsschüben, Brandstiftung, Exhibitionismus, Vergewaltigung. Also machte sich Brunner an ihre Gene und entdeckte bei allen die gleiche Mutation am gleichen Gen: der Monoaminoxidase A (MAO-A), zuständig für den Abtransport von Neurotransmittern.

Da war es also, ein fehlerhaftes Gen, das das Benehmen der Menschen verändert. 1993 wurden die Ergebnisse publiziert.

Dann war in Nijmegen die Hölle los. Die Welt verkündete die Entdeckung des Aggressions-Gens und Han Brunner war erst einmal damit beschäftigt, die Sache wieder richtig zu stellen.

Da ging es ihm nicht besser als einer Kollegin, die in den sechziger Jahren in Schottland herausfand, dass bei Insassen von Hochsicherheitsgefängnissen eine bestimmte Chromosomen-Anomalie überrepräsentiert war.

Die Medien feierten die Entdeckung des "kriminellen" Chromosoms, dann stellte man fest, dass es auch "normale" Menschen mit der gleichen Anomalie gab, dann schrien wieder alle, dass das überhaupt nichts miteinander zu tun habe.

"Sie wanken von einem Extrem ins andere. Jede neue wissenschaftliche Errungenschaft kreiert ein moralisches Dilemma", sagt Han Brunner, dann schweigt er, dann spricht er: "Wenn wir etwas in der Genetik lernen, dann, dass alle kategorischen Statements falsch sind."

Die Sache sei nun mal kompliziert. Von einem gewaltigen Mosaik spricht Brunner und von winzigen Teilchen, die man jetzt in den Händen halte. Kleinste Bauteile, Winzigkeiten, ein Anfang. Aber ein Richter sollte wissen, wenn ein Mensch genetische Fehler hat. Das schon.

"Stop, Daddy, stop"

Bezirksstaatsanwalt Daniel Saunders kennt nur die Fakten. Er konnte Richard Timmons vier Minuten und siebzehn Sekunden lang zuhören, beim Morden.

Eines der Kinder hatte den Notruf gewählt: 911. Das Band wurde vor Gericht vorgespielt. Erst hört man den Fernseher, Jim Carrey kräht: "Time to go to jail." Dann die Schreie des kleinen Aaron: "Stop, Daddy, stop." Dann Stille. Und Hackgeräusche, minutenlang.

Der Bezirksstaatsanwalt sagt: "Es war eine kleine Axt, das dauert ewig, bis man damit einen Kopf abhackt. Es ist eine verdammte Arbeit." Erst war Sharrone dran, dann die Ehefrau, der siebenjährige Aaron versteckte sich unterm Bett, der Vater zog ihn raus, erst traf er nicht, hackte auf das noch lebende Kind ein, bis auch das erledigt war.

Saunders sagt: "So viel Zeit, um aufzuhören, aber er macht einfach weiter. Zieht den Sohn unter dem Bett vor, nur um keine Zeugen zu haben. Dann geht er ins Bad, duscht sich, wischt mit dem Mob das Blut weg, bis die Polizei die Tür aufbricht. Nennen Sie es, wie Sie wollen."

Timmons knüllt die Chipstüte zusammen, will nichts hören von alten Geschichten. Er will raus hier, berühmt werden, so ist der Plan. Zum Teufel mit dem Bösen.

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