"Census of Marine Life":"Süchtig nach Ordnung"

Zehn Jahre lang sind mehr als 2700 Wissenschaftler der Frage nachgegangen: Was lebt alles in den Ozeanen? Der Biologe Rainer Froese war einer von ihnen.

Katrin Blawat

In den vergangenen zehn Jahren haben mehr als 2700 Wissenschaftler die Weltmeere durchsucht. Sie wollten nichts weniger als die große Frage zu klären: Was lebt alles in den Ozeanen?

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Ein "Großer Fetzenfisch" (Phycodurus eques), den Wissenschaftler im Rahmen der "Volkszählung im Meer", dem Census of Marine Life, aufgespürt haben.

(Foto: AFP)

Eine abschließende Antwort gibt es zwar noch immer nicht, zu unerforscht sind viele Regionen der Tiefsee bis heute. Dennoch liefern die Abschlussberichte des "Census of Marine Life", die an diesem Montag in London präsentiert wurden, einige Zahlen: Für mehr als 200.000 im Meer lebende Tier- und Pflanzenarten gibt es nun einen wissenschaftlichen Namen.

Details wie das genaue Aussehen, die Verbreitung in den Meeren und die Verwandtschaft mit anderen Lebewesen konnten die Forscher während des zehnjährigen Census indes nur für 1200 Spezies erfassen. Weitere 5000 neue Arten wurden zwar gefunden, bislang aber weder offiziell beschrieben noch benannt.

Ein Teil der am Marine Census beteiligten Forscher befuhr die Ozeane, insgesamt 9000 Tage lang. Die Wissenschaftler arbeiteten nachts ebenso wie in arktischer Kälte - und erfüllten das Bild eines Forschers, der sich in der Natur behaupten muss, um diese zu verstehen.

Eine große Zahl von Kollegen jedoch trug auf ganz andere Weise zum Gelingen der Meeresinventur bei. Statt der Ozeane durchpflügten sie Datenbanken und wissenschaftliche Literatur der vergangenen drei Jahrhunderte und ordneten das wissenschaftliche Erbe ihrer Kollegen.

Der Fischereibiologe Rainer Froese vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften erzählt, was ihn an dieser Schreibtischarbeit fasziniert, und wie es ist, mit ihm Fisch essen zu gehen.

SZ: Was war das Ziel Ihrer Arbeit?

Rainer Froese: Wir haben eine Datenbank aufgebaut, in der wir unser gesamtes Wissen über das Leben im Meer gesammelt und sortiert haben.

SZ: Das klingt mehr nach Buchhaltung als nach Forschung.

Froese: Ja, aber das war notwendig. Es ist das Erbe des Census, dass allen Forschern weltweit nun das gleiche Wissen zur Verfügung steht, zum Beispiel wie viele aller marinen Spezies Fische sind.

SZ: Wie viele Fischarten gibt es?

Froese: Etwa 16.000 Meeresfische stehen momentan in der Datenbank. Im Rahmen des Census-Projekts kamen pro Jahr 100 neue hinzu. Doch wenn wir Forscher mit diesem Wissen arbeiten wollen, müssen wir uns erst einmal einig sein, wie die Tiere überhaupt heißen.

SZ: Ist das nicht eindeutig?

Froese: Die meisten Arten sind in der Vergangenheit mehrfach von verschiedenen Personen beschrieben und benannt worden, einige Arten mehr als zehnmal. Daher gibt es fast doppelt so viele Fischnamen wie Fischarten. Wir mussten jeweils entscheiden, welche Bezeichnung die gültige ist.

SZ: Anhand welcher Kriterien?

Froese: Der Name, den der Erstbeschreiber vergeben hat, ist gültig, alles andere sind Synonyme.

SZ: Wie sah Ihr Arbeitsalltag aus?

Froese: Am Anfang war ich viel in den Museen der Welt unterwegs und habe mir eingelegte Fische in Gefäßen mit handgeschriebenen Papierstreifen angeschaut. Darauf steht, wer das Tier wo und wann entdeckt hat, und wie es heißen soll. Unsere Arbeit war es, das alles zu sortieren.

SZ: Datensammlung im Museum?

Froese: Unsere heutige Systematik stammt noch von Carl von Linné aus dem Jahr 1758. Ich musste also auch viele alte Manuskripte lesen.

Mehr Wissen, mehr Fragen

SZ: Wenn mehrere Forscher dieselbe Art entdecken, müssten sie diese ja eigentlich auch auf die gleiche Weise beschreiben und kategorisieren.

"Census of Marine Life": Rainer Froese hat am Marine Census mitgearbeitet.

Rainer Froese hat am Marine Census mitgearbeitet.

(Foto: IFM-Geomar)

Froese: Nicht zwangsläufig. Oft wurden zwei Fische, die etwa im Atlantik und im Pazifik vorkommen, für verschiedene Arten gehalten. Erst später hat man gemerkt, dass es sich um dieselbe Spezies handelt, nur in verschiedenen Lebensräumen.

SZ: Haben Sie eine Lieblingsart?

Froese: Ja, den Seehasen, Cyclopterus lumpus. Er ist ein merkwürdiges Tier, kugelförmig und gleichzeitig eckig, mit netten Augen und einer Saugscheibe am Bauch. Er produziert den Deutschen Kaviar.

SZ: Können Sie Freunde damit beeindrucken, dass Sie zu jedem Fisch den lateinischen Namen wissen?

Froese: Zumindest kann ich nirgendswo mehr Fisch essen, ohne dass mich einer fragt, was da auf dem Teller liegt. Ich nenne dann einen komplizierten lateinischen Namen. Es kann ja niemand überprüfen.

SZ: Muss man für Ihre Arbeit sehr ordnungsliebend sein?

Froese: Man wird süchtig nach Ordnung. Wir waren während des Census nicht zufrieden, wenn wir am Tag nicht mindestens 100 Artnamen zugeordnet hatten. Ich bin immer noch besessen davon, jeden Tag ein Ergebnis zu erzielen.

SZ: Haben Sie Ihre Kollegen beneidet, die auf einem Forschungsschiff unterwegs waren?

Froese: Doch, aber gelegentlich war ich auch auf See. Wenn das Netz an Bord kommt, ist die Aufregung immer groß, ob neue Arten dabei sind.

SZ: Lassen sich in einem Netz voller Meeresgetier auf den ersten Blick neue Arten erkennen?

Froese: Die Fachleute sehen das sofort. Es ist faszinierend, mit Taxonomen unterwegs zu sein. Nichteingeweihte denken, die Fische sehen alle gleich silbern aus. Aber ein Experte guckt sich das einmal an und nennt die Art.

SZ: Mögen Sie die Freiland-Arbeit?

Froese: Ja, ich mache das in meiner Freizeit. Ich bin auch Taucher, und wenn ich aus dem Wasser komme, schreibe ich gleich alles auf, was ich gesehen habe, mit Größen- und Tiefenangaben. Aber während der Arbeit sitze ich am Computer und verarbeite, was andere gefunden haben.

SZ: Sind Sie froh, dass der Census jetzt erst einmal abgeschlossen ist?

Froese: Es war ein gutes Programm, aber es gibt noch viel zu tun. Ich bin unzufrieden, dass wir in den zehn Jahren nicht mehr erreicht haben.

SZ: Hoffen Sie, dass Ihre Arbeit irgendwann überflüssig wird, weil alles sortiert und geordnet ist?

Froese: Nein, denn die Namen der Arten waren ja nur ein Aspekt. Was wir wirklich wissen wollen, ist: Wo kommen die Arten vor, wie bedroht sind sie, dürfen sie noch gefischt werden? Diese Fragen werden immer mehr, denn unser Wissen wächst jedes Jahr. Und es will ständig geordnet werden.

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