Botanik:Blumen pflücken seit 200 Jahren

Botanische Staatssammlung München

Es sieht aus wie die Aktensammlung einer Behörde - doch in Rollschränken wie diesen bewahren die Wissenschaftler der Botanischen Staatssammlung München ein paar Millionen getrocknete und gepresste Pflanzenproben auf

(Foto: bsm/oh)

In der Botanischen Staatssammlung München tragen Forscher seit 200 Jahren Pflanzen, Moose, Flechten und Pilze zusammen. Mit drei Millionen Objekten ist das Herbarium eines der größten der Welt. Derzeit wird es in eine internationale Datenbank integriert. Doch wozu werden so viele Belege gebraucht?

Von Monika Offenberger

Hinter den Mauern der Botanischen Staatsanstalten München schlummert ein Schatz. Er verteilt sich auf mehrere Hundert Schränke, die in langen Reihen vom Boden bis zur Decke reichen. Sorgsam beschriftet und sortiert lagern darin 1,8 Millionen getrocknete und gepresste Blütenpflanzen aus aller Welt, dazu 350.000 Moose und jeweils ebenso viele Pilze und Flechten.

Meterlange Tange finden sich neben Glasplatten voller mikroskopisch kleiner Kieselalgen. Schleimpilze mit filigranen Fruchtkörpern sind in Plastikschachteln verwahrt. 20.000 Aquarellzeichnungen ausgewählter Pilze ergänzen diese Kunstwerke der Natur.

Alles in allem ruhen hier drei Millionen Objekte und machen die Botanische Staatssammlung München zu einem der größten der weltweit 3400 Herbarien. Die Sammlung wächst nun seit genau 200 Jahren. Noch immer verfügt der Schatz in den Botanischen Staatsanstalten Münchens über große Bedeutung für die Wissenschaft. Und anders als bei wertvollen Schätzen üblich, arbeitet man hier daran, den Zugang zu den Kostbarkeiten stetig zu vereinfachen.

Kuriositätensammlung des Königs als Grundstock

Den Grundstock für die Sammlung legte König Maximilian I. Joseph von Bayern mit seinem Naturalienkabinett - einem Sammelsurium aus edlen Steinen, seltenen Fossilien, exotischen Tieren und monströsen Pflanzen. Im Geist der Aufklärung erhielten diese Kuriositäten eine neue Bedeutung als Studienobjekte und wurden 1807 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unterstellt. Aus den botanischen Stücken des Kabinetts und einer zugekauften Sammlung des Linné-Schülers Johann Christian Daniel von Schreber ging 1813 das Königliche Münchener Herbarium hervor. Seinem ersten Direktor übertrug man auch die Leitung des wenige Monate zuvor nahe dem Karlstor eröffneten Botanischen Gartens.

Welche Pflanzen, Pilze und Flechten im Lauf der Zeit Eingang in die Sammlung fanden, bestimmten ihre wechselnden Kuratoren. Oder die Politik: 1817 wurde anlässlich der Vermählung der österreichischen Erzherzogin mit dem portugiesischen Kronprinzen der talentierte junge Naturforscher Carl Friedrich Philipp von Martius nach Brasilien gesandt. Von dort brachte er rund 8000 größtenteils unbekannte Pflanzenarten nach München und begann mit einer Übersicht der Flora Brasiliens.

Das 40-bändige Werk, an dessen Vollendung noch lange nach Martius' Tod Dutzende Autoren beteiligt waren, gilt als frühes internationales Großprojekt der biologischen Grundlagenforschung. Die von Martius beschriebenen Pflanzen - sogenannte Typus-Exemplare - zählen zu den Juwelen des Münchner Schatzes.

Die Sammlung wurde mit jedem Jahr größer und platzte bald aus allen Nähten. Deshalb verlagerte man sie nach Nymphenburg an ihren heutigen Bestimmungsort und legte dort auch gleich einen neuen, größeren Botanischen Garten an. Dieser Umzug fand 1913 statt. Seither hat sich der Umfang des Herbars noch einmal fast verdreifacht, und jedes Jahr kommen rund 16.000 Neuerwerbungen dazu.

Wozu so viele Belege?

Wozu braucht man so viele Belege? Warum genügt nicht jeweils ein Exemplar von jeder Art? "Manche Fragen lassen sich nur klären, wenn man viele Aufsammlungen derselben Art hat", sagt Andreas Beck, der die Flechten und Moose der Sammlung betreut. Entscheidend seien nicht nur die archivierten Exemplare selbst, sondern auch, wer sie wann und wo aufgelesen hat.

All das ist auf dem zugehörigen Etikett vermerkt und gibt Aufschluss darüber, ob und wann eine Pflanze geblüht oder Früchte und Blätter getragen hat. "Nur mit genügend Material aus einer Gegend kann man langfristige Veränderungen dokumentieren", sagt Beck und nennt ein Beispiel aus der Klimaforschung: "Bei einigen Arten haben sich durch die Temperaturerhöhung der letzten 150 Jahre nachweislich die Blütezeiten verschoben."

Herbarmaterial ist unverzichtbar für ein präzises Umweltmonitoring. So lässt sich etwa anhand von Strahlenmessungen bei getrockneten Pilzen und Moosen aus dem Bayerischen Wald der radioaktive Fallout nach dem Tschernobyl-Desaster flächenscharf kartieren. Für die Gewässerüberwachung eignen sich Kieselalgen, denn ein Vergleich alter Belege mit heutigen Vorkommen zeigt Veränderungen der Wassergüte an.

Grünstieliger Streifenfarn  vom Fuße des Watzmanns

Der Grünstielige Streifenfarn aus dem Münchner Herbarium stammt vom Fuße des Watzmanns

(Foto: bsm/oh)

Hanno Schäfer, Biodiversitätsforscher der TU München, wies in seinem Symposiums-Vortrag auf ein bislang nicht genutztes Potenzial historischer Herbarbelege hin: Womöglich ließen sich damit ausgestorbene Arten zu neuem Leben erwecken. "Im Test erwiesen sich 100 Jahre alte Samen immerhin bei einer von 26 Arten als keimfähig", sagt Schäfer.

Viele Pflanzen und Flechten lassen sich nur anhand ihrer molekularen Eigenschaften eindeutig identifizieren. Doch dazu muss man zunächst geeignete Biomoleküle oder Genbereiche finden und der Forschergemeinde zugänglich machen. Eben dies ist das Ziel des Projekts German Barcoding of Live, kurz GBOL: Es will alle in Deutschland vorkommenden Arten anhand ihres genetischen Fingerabdrucks, dem DNA-Barcode, charakterisieren. "Wir haben hier ein vollständig ausgerüstetes Labor, um DNA aus dem Herbarmaterial zu extrahieren und sauber zu sequenzieren", sagt Beck. Langfristig will er Gendaten der Münchner Flechtensammlung für GBOL bereitstellen.

Wissenschaftlern aus aller Welt leihen jedes Jahr mehrere Tausend Pilze, Flechten, Moose und Gefäßpflanzen vom Münchner Herbar für ihre Studien aus. Jüngstes Beispiel: Anhand alter Sammlungsstücke rekonstruierte ein internationales Forscherteam die historische Verbreitung der Kartoffelfäule. Die von einem Pilz verursachte Krankheit hatte Mitte des 19. Jahrhunderts große Teile der europäischen Kartoffelernte vernichtet - worauf allein in Irland eine Million Menschen verhungert waren.

Vergleichende DNA-Analysen zeigten nun, dass sich der historische Erreger von den heute verbreiteten Stämmen unterscheidet und vermutlich seit Beginn des 20. Jahrhunderts ausgestorben ist. Die verwendeten Genproben lieferten Pilze auf Kartoffelpflanzen, die vor 150 Jahren in Irland, Großbritannien, Kontinentaleuropa und Nordamerika gesammelt und seither in den Herbarien von München und London aufbewahrt worden waren.

Eine Sammlung lässt sich umso effektiver nutzen, je besser ihre Bestände erfasst und dokumentiert sind. "Wir haben schon 1996 die ersten Datenbanken ins Internet gestellt. 120.000 Belege sind bereits digitalisiert", sagt Dagmar Triebel, Kuratorin für Pilze und Algen. Die Biologin leitet ein IT-Zentrum an den Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns, an dessen Aufbau sie maßgeblich beteiligt war.

"Wir liefern und publizieren Daten unter anderem für das größte internationale Portal für Biodiversitätsforschung namens GBIF", sagt Triebel. GBIF erschließt Datensätze von naturwissenschaftlichen Sammlungen weltweit mit dem Ziel, das Leben auf der Erde zu dokumentieren. Derzeit sind darin die Daten von mehr als 397 Millionen gesammelten oder beobachteten Lebewesen erfasst.

Arbeiten am Archiv der Zukunft

Kernstück des IT-Zentrums ist ein Set von Datenbanken zum Management biologischer Daten - die Diversity Workbench. Sie wird von rund 30 Forschungsinstitutionen, Naturkundemuseen und Sammlungen in Deutschland, Russland und den USA genutzt. "Man kann jetzt ohne großen Mehraufwand die Kerndaten eines Objekts inklusive digitaler Fotos mit den GPS-Daten und weiteren Informationen des Fundorts koppeln und via Smartphone direkt vom Feld aus auf unseren zentralen Server laden", sagt die Kuratorin.

Diese mobile Anwendung wird derzeit in Kooperation mit Forschern aus Bayreuth und Regensburg erprobt: Sie soll unter anderem ökologische Langzeituntersuchungen an Insekten und die floristische Kartierung Bayerns unterstützen. "Das Archiv der Zukunft soll nicht nur Informationen zu Sammlungsobjekten erfassen, sondern sämtliche Daten, die in umweltbezogenen biologischen Forschungsprojekten erhoben und ausgewertet werden", sagt Triebel.

Der Nutzen allgemein zugänglicher Datenbanken ist unbestritten. "Doch digitale Daten ersetzen nicht das Studium der realen Pflanzen. Beides ist wichtig und muss sich ergänzen", betont Herbar- und Gartendirektorin Susanne Renner.

Wenn hingegen ausschließlich digitale Daten ausgewertet würden, komme die taxonomische Bearbeitung bestimmter systematischer Gruppen zu kurz, mahnt Franz Schuhwerk, dienstältester Kurator der Botanischen Staatssammlung, und beklagt eine Geringschätzung entsprechender Kenntnisse: "Wer heute als Nachwuchswissenschaftler nur mit Herbarmaterial arbeitet, ohne irgendein Molekül zu untersuchen, wird es in seinem Fortkommen schwer haben."

Das sei für die jungen Wissenschaftler ebenso fatal wie für die Sammlungen selbst, so Schuhwerk: "Denn ein Herbarium bleibt nur lebendig und die Sammlungsstücke steigen nur dann im Wert, wenn jemand ihre Einordnung überprüft und sie neu einstuft oder überhaupt erst bestimmt."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: