Biologie:Schrullige Eidechsen, ängstliche Clownfische

Walt Disney lag nicht so falsch: In seinen Filmen gibt es mutige Mäuse, neurotische Enten, schüchterne Krabben oder ängstliche Clownfische. Verhaltensforscher finden immer mehr Belege dafür, dass Tiere Charakter haben.

Marcus Anhäuser

In Disney-Filmen gibt es mutige Mäuse, neurotische Enten, schüchterne Krabben oder ängstliche Clownfische. Doch Mickey, Donald oder Nemo sorgen bei vielen Wissenschaftlern, die sich mit Tieren befassen, eher für Naserümpfen. Nette Filme, aber was hat das mit der echten Tierwelt zu tun?

Clownfisch, ddp

Auch Clownfische (im Vordergrund) spielen in einem Disney-Film eine Hauptrolle ...

(Foto: Foto: ddp)

Mehr als man bisher vermutet hatte. Denn Helden und Drückeberger, Stoiker und Neurotiker scheint es im Reich der wilden Tiere genauso zu geben wie in der Welt des Homo sapiens. Verhaltensbiologen haben es nur nie wissen wollen.

Individuelle Persönlichkeit, Charakter und Temperament war für sie jahrzehntelang kein Thema. "Es gab immer diese Angst der Wissenschaftler, Tiere zu vermenschlichen", sagt der Psychologe Sam Goslin von der University of Texas in Austin, der das bisher einzige Labor für Tierpersönlichkeit leitet. Trotz der jahrzehntelangen Scheu: Tiere sozusagen durch die Disney-Brille zu betrachten, das setzt sich mehr und mehr durch.

Tiere sind mutig, schüchtern oder neugierig

Immer häufiger trauen sich Goslins Kollegen, Tieren individuelle Charaktereigenschaften zuzuschreiben. Was jeder Hundebesitzer längst geahnt hat, finden Forscher inzwischen überall in der Tierwelt.

Affen, Hyänen, Regenbogenforellen, Stichlinge, Goldfische, Kohl- und Blaumeisen, Tintenfische und selbst Spinnen, Ameisen und Wasserläufer werden als "mutig", "schüchtern", "neugierig" oder "durchsetzungsfähig" beschrieben.

Zuletzt berichteten im November französische Forscher in den Proceedings of the Royal Society B (Online-Ausgabe, Bd. 274, S. 383, 2007) von Waldeidechsen, unter denen es sozial verträgliche und weniger verträgliche Charaktere gibt. Während sich die Tiere vom geselligen Typ gerne an Orten niederlassen, die von Artgenossen bereits besiedelt sind, ziehen es die Eigenbrötler vor, solche Orte zu meiden.

Zwei Wochen später beschrieben britische Forscher ebenfalls in den Proceedings (Online-Ausgabe, Bd. 274, S. 333, 2007) das Kampf- und Erkundungsverhalten mutiger und schüchterner Regenbogenforellen.

Dass einzelne Tiere einer Art sich in bestimmten Situationen in ihrem Verhalten unterscheiden, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Das beobachten Verhaltensbiologen jeden Tag im Labor oder im Freiland.

Dass Tiere aber individuelle Eigenheiten zeigen, die über verschiedene Situationen hinweg erhalten bleiben, dass sich zum Beispiel die kampfeslustigsten Forellen auch bei der Erkundung unbekannter Futterquellen als die Mutigsten erweisen, diese Erkenntnis zu akzeptieren haben Verhaltenforscher erst in den letzten zehn Jahren gelernt . Und auch, dass man diese Verhaltenssyndrome oder Verhaltensphänotypen mit durchaus vertrauten Begriffen beschreiben kann.

Von Biologen verlacht

"Heute habe ich keine Scheu mehr zu vermenschlichen, aber vor zehn, 15 Jahren, da wäre ich auf einem verhaltensbiologischen Kongress ausgebuht worden, wenn ich von verschiedenen Verhaltensphänotypen gesprochen hätte", sagt Kurt Kotrschal, Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle Grünau in Österreich.

Die Befürchtung, nicht ernst genommen zu werden, als unwissenschaftlich zu gelten, ließ Verhaltensbiologen ein offensichtlich grundlegendes Phänomen ausblenden: "Als Leute wie Lorenz und Tinbergen in den 30er Jahren mit ihrer Art Tiere zu erforschen begannen, haben sie extrem darauf geachtet, Naturwissenschaft zu betreiben und nicht irgendwelche psychologischen Spielereien", sagt Kotrschal. Bis dahin tummelten sich in der Fachrichtung - die damals noch Tierpsychologie hieß - vor allem beseelte Vitalisten, denen der sezierende Blick und das methodische Vorgehen der Naturwissenschaften fehlte.

Schrullige Eidechsen, ängstliche Clownfische

Während Lorenz und Tinbergen die Tierforschung in Europa wissenschaftlicher machten, übernahmen in den USA die Behavioristen das Ruder. Nach ihrer Vorstellung ließ sich jedes Verhalten bei Tieren auf einfache Reflexe zurückführen. "Für Emotion und Charakter war da kein Platz, weil es nach der damals herrschenden Meinung nicht möglich war, so etwas wissenschaftlich zu untersuchen", sagt Sam Goslin. Im Wettstreit mit den "harten" Wissenschaften wie Physik und Chemie wurde erst einmal alles über Bord geworfen, was irgendwie nach naiver Naturbeschreibung aussah.

Nemo, AP

... und zwar in "Findet Nemo"

(Foto: Foto: AP)

Tiere auf der Couch

Dass Tierforscher das inzwischen anders sehen, hat mit einem Erklärungsansatz zu tun, den man als evolutionäre Kontinuität bezeichnet: Da letztlich alle Lebewesen irgendwie miteinander verwandt sind, weil sie irgendwann einen gemeinsamen Vorfahren hatten, sollten sie auch auf ähnliche Weise funktionieren. Die Natur erfindet das Rad nicht für jede Art neu. Inzwischen ist klar: "Diese evolutionäre Kontinuität findet sich überall und zwar in einem Ausmaß, wie man es bis vor zehn Jahren nicht zu denken gewagt hat", sagt Kotrschal.

Ein aggressives Männchen in einer Vogelgruppe kann zwar besonders erfolgreich sein, wenn es darum geht, Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, ist aber vielleicht viel zu stürmisch beim Umwerben der Weibchen und mindert so seinen Fortpflanzungserfolg. Für die Zunft ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke: "Das heißt ja, dass Evolution zu einem in bestimmten Situationen unangepassten Verhalten führen kann", sagt Andy Sih von der University of California in Davis.

Aber es gibt auch schon erste Hinweise darauf, dass der Charakter eines Individuums gar nicht starr ist. Die mutigen und schüchternen Regenbogenforellen der britischen Forscher etwa veränderten ihren Charakter je nachdem, wie ihnen das Leben mitgespielt hatte.

Waren sie als Sieger aus einem Kampf gegen einen Kontrahenten hervorgegangen, stürzten sich die sowieso schon Mutigen selbstbewusster denn je auf ein unbekanntes Futter. Hatten sie dagegen verloren, verhielten sie sich deutlich vorsichtiger, so als ob sie die Niederlage eingeschüchtert hätte.

Stressmanagement wie Menschen

Tiere besitzen zum Beispiel im Kern dasselbe Stressmanagement wie der Mensch. "Die Hirnmechanismen für soziales und sexuelles Verhalten, die Emotionssysteme, die im Bereich Persönlichkeit sehr wichtig sind, sind auch genetisch konserviert", sagt Kotrschal. Ergebnis: Mensch und Tier haben ähnliche Ausprägungen von Persönlichkeit und Emotionen. "Und das gilt - ein bisschen übertrieben ausgedrückt - von den Fischen bis zu den Menschen, auf jeden Fall aber innerhalb der Säuger", sagt der Verhaltensbiologe.

Aber möglicherweise ist dieser Kreis noch zu eng gesteckt. Untersuchungen an Ameisen, Wasserläufern und Spinnen legen nahe, dass es auch im Reich der Krabbeltiere Charakterköpfe und Drückeberger gibt. Temperamentsunterschiede könnten auch erklären, warum manche Vogelmännchen und -weibchen fremdgehen und andere nicht.

Dass Tiere feststehende individuelle Unterschiede in ihrem Verhalten zeigen, forderte nicht nur alte Ängste einer Zunft heraus, sondern vor allem die moderne Evolutionstheorie, auch wenn schon Darwin davon ausgegangen war, dass Tiere sich in ihren Persönlichkeiten unterscheiden. Sam Goslin: "Beständige individuelle Unterschiede in dieses Gebäude einzuflechten, ist gar nicht so einfach".

Natürliche Selektion sollte die Unterschiede zwischen Individuen eigentlich abschwächen. Verhaltensökologen stützen sich bisher aber vor allem auf Modelle, in denen diese Unterschiede als leidige Variation um einen Mittelwert betrachtet wurden. Doch langsam erkennen sie, dass Tiere ihr Verhalten nicht immer optimal an ihre Umwelt anpassen, sondern in gewisser Weise Gefangene ihrer Persönlichkeit sind.

Schrullige Eidechsen, ängstliche Clownfische

Disney, dpa

In seinen Filmen haben die Tiere Charakter: Walt Disney

(Foto: Foto: dpa)

Die Tiere auf der Couch könnten auch für die Humanpsychologie wertvolle Erkenntnisse liefern. "Wir können mit Tieren Persönlichkeit ganz anders erforschen als mit Menschen", sagt Sam Goslin. Tiere kann man klonen und kreuzen, um den Einfluss von Genen und Umwelt zu bestimmen. Weil Labormäuse lange nicht so alt werden wie Menschen, seien Langzeitstudien über mehrere Generationen möglich.

Doch für verwertbare Erkenntnisse müsste die Bandbreite der untersuchten Verhaltenstypen größer werden. Bisher wurden vor allem Charakterzüge wie Mut und Schüchternheit untersucht. Nach Meinung von Sam Goslin ist das aber kein Zeichen dafür, dass das psychologische Moment bei Tieren weniger vielfältig sei als beim Menschen. Das habe eher praktische Gründe: "Es lässt sich einfach untersuchen, kommt bei vielen Arten vor und es hängt mit interessanten, messbaren Parametern wie dem Überleben zusammen."

Je mehr Forscher sich damit beschäftigen, desto eher würden auch andere Persönlichkeitstypen untersucht, glaubt Goslin. "Wir sind ja auch erst am Anfang", sagt Andy Sih. Und sollte den Wissenschaftlern auf ihrer Suche nach neuen Charaktertypen einmal die Phantasie fehlen, dann lohnt es sich vielleicht, mal wieder ins Kino zu gehen. Der nächste Disney-Film kommt bestimmt.

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