Debatte um Beschneidung:Wo ist die "Koalition der Frommen"?

Kabinett beschliesst Beschneidungsgesetz

Beschneidungsutensilien liegen auf einem Kissen im Haus der Israelitischen Kultusgemeinde in Hof

(Foto: dapd)

Publizist Tilman Jens hadert mit der politischen Lösung im Streit über die religiöse Beschneidung von Jungen und wittert einen klerikalen Zeitgeist. Aber er übertreibt, wenn er in seinem neuen Buch von einer "Koalition der Frommen" spricht, die in einen Krieg gegen den Rechtsstaat ziehe.

Von Tanjev Schultz

Einem guten Streit weicht der Publizist Tilman Jens nicht aus, er sucht ihn sogar, schätzt und fordert ihn. Wenn er das Gefühl hat, Menschen würden mundtot gemacht, kann er zornig werden. In seiner ebenso kurzen wie kurzweiligen "Streitschrift zum neuen Religionskampf" erinnert er die Leser zum Beispiel an den Fall eines niedersächsischen Landtagskandidaten der Grünen.

Der hatte sich in der Debatte über die Beschneidung muslimischer und jüdischer Jungen zu einem Schmähgedicht hinreißen lassen. "Bist Du für ein intaktes Glied, so bist Du gleich Antisemit", reimte der unbeholfene Poet. Auch parteiintern fegte ein Sturm der Entrüstung über ihn hinweg. "Die Treibjagd war eröffnet", schreibt Tilman Jens.

Am Ende zog der Grüne seine Kandidatur zurück. Für Jens ist das ein Beleg dafür, wie "religionsergeben mittlerweile auch die einst unbotmäßigen Grünen geworden sind".

Er will zwar nicht die Entgleisungen in der Wortwahl des Hobby-Poeten verteidigen, wohl aber das Recht auf verschiedene Meinungen und auf eine ordentliche Debatte.

Allerdings war das Problematische des Schmähgedichts, dass es selbst eher diskursabschneidend als diskursfördernd war.

Jens macht kein Hehl daraus, dass er die Beschneidung kleiner Jungs für einen Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit hält. Doch fast noch mehr scheint ihm gelegen zu sein an einer offenen Diskussion, die nicht im Eilverfahren geführt und dann abgewürgt wird. In erstaunlichem Tempo haben Regierung und Opposition das Thema abgeräumt und die rechtliche Unsicherheit bei der Beschneidung durch ein neues Gesetz beendet.

Jens kritisiert das. Aber man kann darin auch einen Akt der politischen Klugheit erkennen. Es ist ja nicht so, als habe es gar keine vernünftige Auseinandersetzung über die Beschneidungspraxis gegeben. Die Zeitungen waren gut gefüllt mit mehr oder weniger differenzierten, vielfältigen Beiträgen.

Am Ende galt es jedoch auch, rasch auf das um sich greifende Gefühl der Entfremdung zu reagieren, das viele Muslime und Juden in Deutschland verspürten. Denn die Kehrseite der Meinungsfreiheit ist, dass diese Menschen in der Beschneidungsdebatte leider auch allerhand Widerliches lesen mussten, wenn sie im Internet nicht rechtzeitig wegklickten.

Wer fragt nach den Gefühlen der beschnittenen Knaben?

Aber, mag Tilman Jens nun einwenden, fragt denn jemand die beschnittenen Knaben nach ihren Gefühlen? Er hadert nicht nur mit der politischen Lösung im Streit über die Beschneidung. Er wittert generell einen klerikalen Zeitgeist. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Kirchen angeschlagen wirken, sollen sie, folgt man seiner Diagnose, eine erstaunliche Macht entfalten. In Deutschland gehe der Staat beunruhigend oft "auf die Knie vor der Kirche".

Jens übertreibt, wenn er von einer "Koalition der Frommen" spricht, die in einen Krieg gegen den Rechtsstaat ziehe. Mit solchen Reden schießt er über das Ziel der gewünschten Debatte hinaus, weil er damit Vertreter des Glaubens in die Ecke eines Feindes rückt, gegen den Worte eigentlich kaum noch etwas ausrichten können.

Abgesehen von solchen martialischen Momenten gelingt es Jens, seine These mit Beispielen zu stützen. Da ist etwa die Diskussion über Blasphemie, die sich an einer Papst-Karikatur in der Satirezeitschrift Titanic entzündete, die den Pontifex mit befleckter Soutane zeigte. Eigentlich ist so ein billiger Humor kaum der Rede wert, in seinem Willen zur Provokation hatte er erstaunlicherweise dennoch Erfolg.

Dass sich sogar ein so feinsinniger Dichter (und Katholik) wie Martin Mosebach Gedanken über Gotteslästerung gemacht hat, ist für Jens offenbar nur ein weiteres Indiz dafür, dass die Meinungsfreiheit ernsthaft in Gefahr gerät. Er nennt Mosebach "bestürzend klug" und stellt später die Frage: "Wie viel Meinungsfreiheit bleibt einem Gemeinwesen, das lästerliche Gedanken, mag ja sein: auch schlechten Geschmack, nicht mehr diskutiert, sondern abstraft?"

Ganz so arg ist es um den Zustand der Meinungsfreiheit wohl nicht bestellt. Das zeigt nicht zuletzt dieses Buch von Tilman Jens. Immerhin erscheint es in einem Verlag, der in seinem Programm ziemlich viele fromme Titel führt.

Tilman Jens: Der Sündenfall des Rechtsstaats. Eine Streitschrift zum neuen Religionskampf. Gütersloher Verlagshaus, 2013. 127 Seiten, 14,99 Euro.

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