Bergaffiner Baske:Archivar der Abstürze

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Informantennetz in Pakistan, Telefonate mit Messner, eine riesige Datenbank: Wie Javier Eguskitza akribisch alle Unfälle im Himalaja dokumentiert.

Martin Roos

Nie stieg er höher als auf einen Dreitausender. Trotzdem gilt er als Kenner aller Achttausender. Javier Eguskitza, ein Baske aus Bilbao, wird von seinen Landsleuten liebevoll Kartenfresser, Kartajanari, genannt. In seiner Wohnung quellen die Regale über von Landkarten des Himalaja. Seine Leidenschaft gilt den höchsten Bergen der Welt und all den Menschen, die dort in die sogenannte Todeszone vordringen.

Bergsteiger am Mount Everest (Foto: Foto: Reuters)

Eguskitza kennt sämtliche Basislager, Aufstiegsrouten und Gipfelstürmer. Und die Toten: 668 Bergsteiger sind an den 14 Achttausendern bis zur Silvesternacht 2005 umgekommen. Allein am Mount Everest starben 192 von 2561 Menschen, die sich zum höchsten Punkt des Planeten (8844 Meter) aufmachten.

Je 56 sind abgestürzt oder von Lawinen begraben, 26 verschollen, 20 erfroren; die übrigen 34 an Höhenkrankheit oder anderen Leiden umgekommen. Das ergab die Auswertung von Eguskitzas international anerkannter Datenbank, vorgenommen von der Spanischen Gesellschaft für Bergmedizin und -rettung (Semam).

Vor kurzem ließ die Gesellschaft auf ihrer Jahrestagung die Daten vorstellen. Das Wissen um die Tücken der Berge verbessert die Expeditionsplanung und senkt, so die Hoffnung der Semam, die Todesrate im Himalaja.

Vier Frauen versuchten es, zwei standen oben. Keine Überlebte.

Das gilt für extrem schwierige Berge ebenso wie für die populär gewordenen. Anwärter auf den Cho Oyu sollten sich zum Beispiel besonders gewissenhaft auf Herz und Höhentauglichkeit prüfen lassen.

Auch wenn der Cho Oyu zusammen mit dem Everest als leichtester der Achttausender gilt (2227 Besteigungen), starb dort etwa jeder Vierte der 37 Toten an Höhen- oder Herzproblemen. Verglichen mit dem auch für Hobbybergsteiger zunehmend erschlossenen Everest ist das viel: Dort standen Höhenkrankheiten und Herzattacken nur bei jedem neunten Umgekommenen auf dem Totenschein.

Betreffend die - noch - selten bezwungenen Achttausender liefern die Daten Eguskitzas den Expeditionsleitern handfeste Argumentationshilfen, um Gipfelstürmer zu beraten. Am K2 beispielsweise, der 249-mal bestiegen wurde, kamen 60 Alpinisten um, wobei ein Drittel abstürzte - ein extrem hoher Anteil.

Wegen der alpinistischen Schwierigkeiten sollte am K2 demnach das Augenmerk stärker noch auf der körperlichen Verfassung und den Fähigkeiten der Expeditionsteilnehmer liegen.

Schrecken flößen die Zahlen für den Annapurna ein: 142-mal bestiegen, 58 Tote. Nachdem zwei Drittel der Expeditionstoten dem Abgang von Lawinen zuzuschreiben sind, so eine der Schlussfolgerungen, müssen sich die Entscheidungen für oder gegen den Aufstieg noch deutlich stärker an den Schnee- und Wetterbedingungen orientieren, als dies bei Himalajaexpeditionen sowieso schon der Fall ist.

Angesichts von 41 Prozent Bergtoten unter denen, die auf dem Gipfel standen, darf der Annapurna als gefährlichster Achttausender gelten. Das gilt für Männer. Die Extrembergsteigerinnen fürchten am meisten den Kangchenjunga, häufig einfach Kantsch genannt. Bis Ende 2005 versuchten vier Frauen, ihn zu besteigen. Zwei standen oben, aber keine der vier überlebte.

Frauenfeindliche Achttausender

Warum erscheinen manche Achttausender besonders frauenfeindlich? Semam-Präsident Javier Botella aus Valencia vermutet, dass der Leistungswille bei Bergsteigerinnen besonders ist. Die Hälfte der 14 Achttausender sind von weniger als zehn Frauen bestiegen worden.

Können und Besonnenheit bewies die 36-jährige Alpinistin Gerlinde Kaltenbrunner. Die Österreicherin erreichte im Mai 2006 den Gipfel des Kantsch, womit sie als einzige lebende Bezwingerin des gefürchteten Gipfels gelten darf. Neun der vierzehn Achttausender hat sie bestiegen - Weltrekord unter den Frauen.

Die Spanier gehören historisch nicht zur ersten Generation der Himalajaeroberer, aber in den 1970er Jahren haben sie sich international unter den großen Bergsteigernationen etabliert. Innerhalb der Iberischen Halbinsel gelten die Basken aufgrund ihrer Nähe zu den Pyrenäen traditionell als bergaffin.

Freunde von Javier Eguskitza waren es, die im Jahr 1973 eine Everest-Expedition unternahmen. Eguskitza verabschiedete sich damals, im Alter von 33 Jahren, noch weit unterhalb des Basislagers. Aber die Reise nach Nepal reichte aus, um seine lebenslange Leidenschaft für die Welt der größten Gipfel zu entfachen.

Übergabe an einen Deutschen

Über Jahrzehnte hinweg telefonierte er Messner, Kammerlander und anderen Bergsteigern hinterher, sobald diese zurückkehrten aus den todbringenden Höhen. Aber Eguskitza spielte nicht nur die Rolle des passiven Dokumentators. Akribisches Nachfragen nach Routendetails führte dazu, dass er manchen stolz präsentierten Gipfelerfolg als Hirngespinst entlarven konnte. Damit ihm keine Expedition entging, baute Eguskitza ein Informantennetz in Pakistan auf.

Eguskitza ist inzwischen 66 Jahre alt. Aus gesundheitlichen Gründen musste er vor Jahren seinen Beruf als Programmierer aufgeben. Selbst auf seine geliebten Landkarten kann er sich jetzt nicht mehr länger als einige Minuten konzentrieren. Aber seine Daten und Kontakte gehen nicht verloren; er übergab sie an einen deutschen Kartenfresser-Kollegen: Eberhard Jurgalski, 54 Jahre alt, in Lörrach lebend.

Er kommt mit dem Sammeln und Auswerten von Daten kaum noch nach: Allein im Jahr 2006 standen mehr als 480 Menschen auf dem Mount Everest. Elf derjenigen, die sich zum höchsten Gipfelsturm aufmachten, kamen ums Leben - mehr als in den Jahren 2000 bis 2005 zusammen.

© SZ vom 3. Januar 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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