Automobilforschung:Mit Grip und Gummi

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Wenn Pneus über Asphalt rutschen, quietscht, qualmt und stinkt es. Wer erklären kann, was dabei genau passiert, könnte bessere Reifen bauen. (Foto: dpa)

Was passiert, wenn Reifen über Asphalt rollen oder rutschen, hat noch nie jemand wirklich verstanden. Jetzt glauben Forscher, das Rätsel mit Hilfe eines Experiments von Leonardo da Vinci gelöst zu haben.

Von Andrea Hoferichter

Man muss kein Formel-1-Fan oder Sicherheitsfanatiker sein, um sich für den Grip von Autoreifen zu begeistern. Bo Persson vom Forschungszentrum Jülich tut es aus wissenschaftlichen Gründen. Denn was auf molekularer Ebene passiert, wenn Reifen über Asphalt rollen oder rutschen, hat noch niemand wirklich verstanden.

Persson will das ändern und hat dazu eine Theorie experimentell überprüft - mit Erfolg, wie er und Forscher des Reifenherstellers Hankook Tire im Fachblatt Journal of Chemical Physics berichten.

"Zurzeit berücksichtigen die Hersteller bei Simulationen zur Reifenhaftung vor allem die Viskoelastizität. Sie bestimmt die Verformung des Reifens, die durch die Unebenheiten des Straßenbelags verursacht wird", berichtet Persson. Diese sogenannte Hysterese-Reibung ist vor allem bei hohen Geschwindigkeiten der dominierende Faktor. Wenn Gummi aber langsamer über den Asphalt rutsche, sagt der Forscher, hätten Scherkräfte ebenfalls einen maßgeblichen Einfluss.

Hohe Temperaturen vermindern klebenden Kontakt

Scherkräfte wirken Perssons Modell zufolge, weil die unterste Gummischicht auf dem Straßenbelag haftet, während sich der Rest weiterbewegt. Die knäueligen Gummimoleküle an der Grenzfläche vollführen dabei geradezu gymnastisch anmutende Bewegungen. Mit einem Ende hängen sie noch auf dem Untergrund, derweil das andere Ende weitertreibt und die Teilchen langzieht. Schließlich reißen sie ab, schnurren wieder zu einem Knäuel zusammen, und der Zyklus beginnt von Neuem.

Bei hohen Temperaturen, wenn sich die Gummimoleküle aus physikalischen Gründen stark bewegen, und bei schnellen Rutschgeschwindigkeiten fehlt allerdings die Zeit, den klebenden Kontakt herzustellen. "Dann spielen die viskoelastischen Faktoren die Hauptrolle", räumt der Wissenschaftler ein. Das Gleiche gilt, wenn Wasser oder Dreck die Bindung verhindern.

Um die Theorie zu prüfen, testeten die Forscher die Reibungskräfte von Gummimischungen für Sommer-, Winter- und Ganzjahresreifen auf Sandpapier und zwei verschiedenen Asphaltoberflächen mit einem von Leonardo da Vinci erfundenen Versuchsaufbau. Sie hängten Gewichte über eine Umlenkrolle an die blockförmigen Gummiproben, die dadurch gleichmäßig und mit maximal einem Millimeter pro Sekunde sehr langsam über die Beläge gezogen wurden.

"So konnten wir vermeiden, dass sich das Gummi erwärmt, denn auch die Temperatur beeinflusst die Reibung", erklärt Persson. Ein Gewicht auf der Gummiprobe sorgte zudem für einen reifentypischen Andruck. Aus dem Verhältnis der Massen ermittelten die Forscher die Reibungswerte. Mit Mikroskopen untersuchten sie außerdem die Struktur der Untergründe und bestimmten daraus die Kontaktflächen, denn im Mikro- oder gar Nanometermaßstab hat selbst glänzender Asphalt ein Profil wie eine zerklüftete Steilküste.

Gerade diese winzigen Strukturen bestimmten den Kontakt, während größere Poren oft unberührt bleiben. Als Nächstes wollen die Wissenschaftler testen, ob ihre Gleichungen die Reibungseffekte auch bei höheren Geschwindigkeiten und bei Temperaturen von minus 45 bis plus 80 Grad Celsius gut beschreiben.

Die geplanten Experimente könnten zur Nagelprobe werden für die Scherkraft-Hypothese. Manfred Klüppel vom Deutschen Institut für Kautschuktechnologie in Hannover jedenfalls ist skeptisch, dass sich die Überlegungen aus Jülich in vollem Umfang belegen lassen. Er selbst habe ein ähnliches Modell entwickelt, das ebenso gut funktioniere.

Es besteht Forschungsbedarf zu Autoreifen

"Es beschreibt den Prozess an der Grenzfläche Reifen - Asphalt als Peelingeffekt, wie wenn man einen Tesafilmstreifen abzieht", erklärt der Materialforscher. Sein Modell fußt auf Mechanik statt auf Bindungswahrscheinlichkeiten zwischen Molekülen. Dennoch kommen beide Theorien bei langsamen Geschwindigkeiten zu ähnlichen Ergebnissen. Bei hohen Geschwindigkeiten indes lässt die Reibkraft pro Fläche nur in Perssons Modell nach, weil die Moleküle zu wenig Zeit haben, sich zu binden.

Die Unstimmigkeiten zeigen vor allem, dass noch viel Forschungsbedarf beim scheinbar einfachen Thema Autoreifen besteht. "Reibungseffekte sind viel zu lange stiefmütterlich behandelt worden", bestätigt Burkhard Wies vom Reifenhersteller Continental in Hannover, der mit beiden Wissenschaftlern kooperiert. "Wenn wir heute zum Beispiel Reifen in einer extremen Kurvenlage simulieren, wo Reibungseffekte besonders stark zum Tragen kommen, steigt der Computer schlicht aus." Phänomene an der Kontaktfläche seien in solchen Simulationen bisher nicht berücksichtigt, und die Vorgänge auch insgesamt ausgesprochen komplex.

Größte Herausforderung der Reifenentwicklung

Simulationen alleine genügen dafür nicht. Neue Reifenmischungen werden deshalb im Labor auf verschiedenen Untergründen bei unterschiedlichen Temperaturen getestet und die daraus abgeleiteten Kenndaten in die Simulationssoftware gespeist. "Vielleicht lassen sich irgendwann einmal die nötigen Daten auch direkt aus den Rezepturen ableiten, aber das ist noch Zukunftsmusik", ist Wies überzeugt.

Dennoch hofft er auf bessere Computerprognosen, vielleicht auch dank der Formeln aus Jülich. Sie könnten etwa bei der Entwicklung von Reifen helfen, die bei gleicher Lebensdauer noch mehr Grip und weniger Rollwiderstand haben. Genau das ist die große Herausforderung der Reifenentwicklung, denn die beiden Ziele "mehr Haftung" und "leichterer Lauf" widersprechen sich grundlegend. Ob es eine Lösung gibt für diesen Zielkonflikt oder nur einen bestmöglichen Kompromiss, muss sich erst zeigen.

© SZ vom 08.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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