Atomunglück in Fukushima:Kernspaltung ist noch keine Katastrophe

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei im Atomkraftwerk Fukushima-1 erneut eine bedrohliche Situation entstanden: Es gibt deutliche Hinweise auf Kernspaltungen im Reaktorblock 2 und niemand weiß, was tatsächlich im Reaktor geschieht. Eine fatale Kettenreaktion ist aber unwahrscheinlich.

Markus C. Schulte von Drach

Im Atomkraftwerk Fukushima-1 gibt es klare Hinweise darauf, dass in dem Gemisch aus geschmolzenen Brennelementen, Hüllrohren, Abstandshaltern und Steuerstäben im Reaktorkern von Block 2 noch immer Kernspaltungen stattfinden.

Anzeichen neuer Kernspaltung in Fukushima-Reaktor

Xenon-Isotope in der Luft aus dem Reaktorblock 2 belegen, dass dort mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer Kernspaltungsprozesse stattfinden.

(Foto: dpa)

Das hört sich bedrohlich an - und scheint im Widerspruch zu den früheren Erklärungen der Betreiberfirma Tepco zu stehen, der zufolge der Druck und die Temperatur dort stabil sein sollen. Gerade dass das Kühlwasser inzwischen nur noch weniger als hundert Grad heiß ist, bedeutet, dass das zugeführte Kühlwasser nicht mehr verdampft. Die Nachwärme des atomaren Brennstoffes sollte weiter abklingen.

Es besteht die Hoffnung, dass man sich in Fukushima-1 nun stärker darauf konzentrieren kann, die radioaktiv verseuchten Bereiche der Anlage zu sichern bzw. zu entsorgen, ohne weitere Explosionen zu befürchten.

Nun aber haben Arbeiter festgestellt, dass Luft, die aus dem Reaktor abgesaugt wurde, die Isotope Xenon-133 und Xenon-135 enthält. Diese Isotope sind Spaltprodukte von Uran-235. Da sie eine Halbwertszeit von etwa fünf Tagen (133Xe) und neun Stunden (135Xe) haben, deutet ihr Auftreten tatsächlich auf aktuelle Kernspaltungen hin. Demnach führt der Zerfall von Uran-Isotopen im geschmolzenen Brennmaterial offenbar dazu, dass dabei abgegebene Neutronen benachbarte Uran-Atome spalten, die dann wiederum zwei bis drei Neutronen abgeben.

Droht also noch immer - oder wieder - eine unkontrollierte Kettenreaktion, wie sie in den Reaktorblöcken des Kraftwerks im März stattgefunden hatten? Damals hatte nach einem schweren Erdbeben ein Tsunami Japan heimgesucht. Etwa 20.000 Menschen starben oder wurden als vermisst gemeldet. Zehntausende Menschen mussten die verstrahlten Gebiete rund um das Kraftwerk verlassen.

Für eine seriöse Einschätzung der Situation liegen nicht genügend Daten vor. Doch dass es nun zu einer ungebremsten Kettenreaktion und einer nuklearen Explosion kommen könnte, ist wohl eher nicht zu befürchten. Vielmehr spricht einiges dafür, dass schon in der Vergangenheit immer wieder Kernspaltungen und sogar Kettenreaktionen im Reaktorblock 2 stattgefunden haben - ohne katastrophale Folgen.

Xenon selbst bremst Kettenreaktionen

Man könne nicht ausschließen, erklärt Sven Dokter von Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), dass es im Reaktorbehälter von Block 2 zuvor bereits immer wieder zu "lokalen Rekritikalitäten" gekommen ist: An bestimmten Stellen könne Kühlwasser in Kontakt mit der zusammengeschmolzenen Masse gekommen sein - einer Masse, von der niemand weiß, wie sie aussieht, ob sie zum Beispiel Spalten und Kanäle besitzt und wo sie sich überhaupt genau befindet. Und Wasser kann Neutronen, die beim spontanen Zerfall von Uran-Isotopen frei werden, soweit abbremsen, dass sie tatsächlich benachbarte Uranatome spalten können.

Dabei entstehen jedoch auch Xenon-Isotope, die die Kettenreaktion nun wiederum bremsen oder stoppen können. Weil das Edelgas Neutronen "schluckt", wird es sogar als "Reaktorgift" bezeichnet.

Außer solchen zeitlich begrenzten Prozessen könnte eine Kettenreaktion durch die im Kern herrschenden Bedingungen auch auf einem niedrigen Niveau gehalten werden. "Je nachdem, wie groß der Ort ist, an dem das stattfindet, und je nachdem, wie groß die absolute Menge der Neutronen ist, kann es zwar sein, dass Spaltungen stattfinden, aber mit ganz minimaler Energiefreisetzung", stellt Dokter fest. Dann würden die Kernspaltungen die Temperatur im Reaktorblock auch nicht bedeutend erhöhen. Und das ist offenbar der Fall.

Um wirklich sicher zu sein, was im Reaktorblock 2 tatsächlich vor sich geht, fehlen zwar die Daten. So wurde in den vergangenen Wochen und Monate nicht geprüft, ob in der Luft im Reaktorblock 2 Xenon vorkommt. Auch der aktuelle Test fand nur statt, weil Tepco die kontaminierte Luft Ende Oktober aus dem Block abgesaugt hat, um gegebenenfalls Arbeiter in den Block schicken zu können.

Neben den unveränderten Druck- und Temperaturverhältnissen spricht noch ein weiteres Argument dagegen, dass das jetzt festgestellte Xenon auf eine neue Entwicklung im Reaktor hinweist. "Dafür müsste sich im Kern etwas geändert haben", erklärt GRS-Sprecher Dokter. "Die Form des geschmolzenen Kerns etwa, oder dass das Kühlwasser an eine Stelle kommt, wo es vorher nicht war."

Das ist aber unwahrscheinlich. Schließlich sind die Reaktoren bereits seit geraumer Zeit auf Temperaturen abgekühlt, die weit unter den Schmelztemperaturen des Materials im Kern liegen. Die Bedingungen dürften dort deshalb relativ konstant sein.

"Auch die Radioaktivität, die an die Umwelt abgegeben wird, ändert sich zur Zeit offenbar nicht signifikant", sagt Dokter. "Das ist das Wesentliche für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation." Unter dem Vorbehalt, dass man nicht wirklich weiß, was im Detail passiert, müsse man sich also jetzt nicht mehr Sorgen machen als vor der Entdeckung des Xenons. Trotzdem versetzen die Japaner das Kühlwasser nun wieder mit Borsäure, die Neutronen abfangen kann, bevor sie Uran-Atome spalten.

Die Experten hoffen nun, dass die Temperatur im Reaktor weiter sinkt, da die durch den spontanen Zerfall des atomaren Brennmaterials erzeugte Nachwärme fortwährend nachlässt. Nur wenn die Verhältnisse stabil sind, können weitere Maßnahmen ergriffen werden, den Austritt radioaktiver Stoffe in die Umwelt zu unterbinden - und langfristig die kontaminierten Teile der Anlage zurückzubauen und zu entsorgen.

Eines belegt die Entdeckung der Kernspaltung im Reaktorblock 2 aber deutlich: Niemand hat eine Ahnung, was dort tatsächlich geschehen ist - und niemand kann vorhersagen, was noch passieren wird.

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