Atompolitik:Große Töne, kleiner Beitrag

Pro Jahr müssten 32 neue Kernkraftwerke bis 2050 ans Netz gehen, um das Klima zu retten, sagt die Internationale Energieagentur (IEA). Doch das ist keine Lösung.

Christopher Schrader

Eine konkrete Zahl hilft oft enorm dabei, die eigenen Gedanken zu ordnen. Plötzlich erscheint die Zukunft in dem Aspekt, den die Zahl beschreibt, greifbar; positive wie negative Folgen von Entscheidungen lassen sich berechnen.

Atompolitik: Bis 2050 sollen pro Jahr 32 neue Kernkraftwerke ans Netz gehen, fordert die Internationale Energieagentur (IEA).

Bis 2050 sollen pro Jahr 32 neue Kernkraftwerke ans Netz gehen, fordert die Internationale Energieagentur (IEA).

(Foto: Foto: ddp)

Für die Nuklear-Wirtschaft lautet diese Zahl seit einigen Tagen 32. So viele neue Kernkraftwerke müssten nach Ansicht der Internationalen Energieagentur (IEA) bis 2050 pro Jahr ans Netz gehen. Insgesamt dürfte sich der heutige Park an Atommeilern dadurch auf etwa 1300 verdreifachen, so die in Paris ansässige, von 27Industriestaaten getragene Organisation.

Die Zahl von 32 neuen Kernkraftwerken ist die spektakulärste Forderung in einem Paket von Maßnahmen, das der IEA-Leiter Nobuo Tanaka als "Energie-Revolution" bezeichnet. Deren Ziel sei es, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2050 zu halbieren, um gefährliche Folgen des Klimawandels zu vermeiden.

"Energiepolitische Amoklauf"

Die Biomassenutzung soll sich vervierfachen, 46 Prozent des Strombedarfs decken dann erneuerbare Energiequellen, dazu werden jedes Jahr 17.500 Windräder errichtet. Dennoch hat Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, der die grundsätzlichen Ziele teilt, Tanakas Zahlen wegen der Nuklear-Komponente als "energiepolitischen Amoklauf" bezeichnet. "Unverantwortlicher kann man kaum mit diesem Thema umgehen."

Kritiker der IEA-Forderung verweisen vor allem auf die Risiken von Unfällen und Weiterverbreitung von Atomwaffen, wenn die Zahl der Kernkraftwerke derart zunimmt. Sie werden schließlich kaum den 31 Staaten vorbehalten bleiben, die bereits nukleare Anlagen besitzen.

Bereits 2030 dürften 55 Staaten Kernreaktoren betreiben, sagte der amerikanische Staatssekretär für Kernenergie, Dennis Spurgeon, vor kurzem auf einem Kongress in Hamburg. 2050 könnten es dann schon 86 Länder sein. Seine Regierung sieht das zwiespältig. Einerseits begrüßt sie die Möglichkeit, mit wenig Treibhausgasen Strom zu erzeugen, andererseits fürchtet sie die nukleare Proliferation, also die Verbreitung der Atombomben-Technik.

"Fast alle neuen Besitzer von Reaktoren werden militärische Hintergedanken haben", sagt Gerd Rosenkranz von der Deutschen Umwelthilfe. "Und sei es nur, weil sie sich vor der Bombe des Nachbarlandes fürchten." Mit der Verbreitung von Reaktoren, warnt auch Umweltminister Gabriel, "würden wir die Fähigkeit zum Bau von Atombomben schneller verbreiten, als wir es uns in den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges hätten vorstellen können". Zudem ist unvermeidbar, dass Anlagen in Krisenregionen stehen, wo sie Ziel von Militärschlägen und Sabotageakten werden.

Ein weiteres Risiko besteht darin, dass bisher kein Land der Erde ein funktionierendes Endlager für verbrauchte Brennelemente hat. Schon das industrialisierte Deutschland nutzt seit über 40 Jahren Atomstrom, ohne eine Entscheidung über ein Endlager getroffen zu haben. Das ist es kaum anzunehmen, dass heutige Entwicklungsländer eines Tages umsichtiger vorgehen. Damit aber wächst in mehr als 50weiteren Ländern die Gefahr, dass Atommüll unsachgemäß behandelt, verschlampt oder von Terroristen gestohlen wird, um damit Ziele in den Metropolen der Welt zu verseuchen.

Womöglich würde ein massiver Ausbau der Kernkraft sogar die Sicherheit der Stromversorgung verringern statt sie zu vergrößern. "Mit der Zahl der Reaktoren nimmt auch das Risiko von Unfällen zu", sagt Gerd Rosenkranz. "Wenn in Zukunft etwas passiert, werden womöglich gleich Hunderte von ähnlich gebauten Atomkraftwerken heruntergefahren."

Ein Argument wie nach dem Unglück von Tschernobyl, solch ein Unglück könne in keinem westlichen Meiler passieren, dürfte dann kaum noch gelten und das Abschalten verhindern.

Mutwillig gewählte Zahlen

Bei all dem muss man sich ohnehin fragen, wie ernst Tanakas IEA die Forderung nach 32 neuen Kernkraftwerken pro Jahr meint. Um zu der Zahl zu kommen, haben die Experten in Paris den Optimismus der Atomenergiebehörde in Wien noch etwas überboten, die ein jährliches Wachstum der nuklearen Stromproduktion von 2,5 Prozent für möglich hält.

Die 32 neuen Kraftwerke entsprechen zudem ziemlich genau dem, was die Nuklearindustrie in ihrer besten Zeit in den 1980er-Jahren pro Jahr gebaut hat. "Das ist auch in Zukunft wieder machbar", sagt Dieter Marx, Geschäftsführer des Branchenverbandes Deutsches Atomforum. "Alle Firmen bauen schon wieder Kapazitäten auf, und es gibt neue Anbieter in Asien."

Dennoch spielen die Reaktoren in dem Zahlenwerk aus Paris bei der Halbierung der Treibhausgas-Emissionen eine eher untergeordnete Rolle. Sechs Prozent steuert die nukleare Energie zu dem Ziel bei, das ist der kleinste Einzelposten. Erneuerbare Quellen machen 21 Prozent aus, das Energiesparen 36Prozent. Zudem schreibt die IEA, dass ihre "Energie-Revolution" bei den Treibstoffen für den Verkehr am teuersten und schwierigsten wird. Hier kann die Kernkraft aber am wenigsten beitragen.

Das untermauert die Kritik etwa von Gerd Rosenkranz, die Zahl von 1300 neuen Kernkraftwerken sei mutwillig gewählt. "So hoch muss man greifen, damit die Atomenergie überhaupt einen rechnerischen Effekt beim Klimaschutz haben kann. Inhaltliche Gründe dafür gibt es nicht."

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