Atomkraftwerke:Ein Super-GAU pro Jahrzehnt

Diese Einschätzung stammt nicht aus dem Argumentationsleitfaden einer radikalen Umweltgruppe, sondern von einem Max-Planck-Institut: Die Reaktoren, die noch 20 bis 25 Jahre am Netz bleiben, könnten in dieser Zeit zwei Kernschmelzen produzieren. Allerdings regt sich gegen diese Hochrechnung auch Widerspruch.

Christopher Schrader

Schwere Unfälle in Kernkraftwerken und die radioaktive Verseuchung weiter Landstriche sind womöglich viel wahrscheinlicher als bislang angenommen wird. Westeuropa und besonders Teile Deutschlands müssten demnach im Mittel alle 50 Jahre damit rechnen, dass sich eine strahlende Cäsiumwolke über dicht bewohnte Gebiete legt.

Cäsium-137 nach Reaktorunfall

Die mögliche Verbreitung des gefährlichen Isotops Cäsium-137 nach Reaktorunfall.

(Foto: Karte: Daniel Kunkel, MPI für Chemie 2011, Bearbeitung: SZ)

Diese Aussagen stammen nicht etwa aus dem Argumentationsleitfaden einer radikalen Umweltgruppe, sondern vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz. Dessen Direktor, Jos Lelieveld, hat mit zwei Kollegen durchgerechnet, welche Folgerungen für die nukleare Sicherheit aus den Katastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 zu ziehen sind (Atmospheric Chemistry and Physics, Bd. 12, S. 4245, 2012).

Lelieveld und sein Team haben zunächst einige Annahmen über Unfälle in Atommeilern getroffen und dann im Computer simuliert, wohin sich die freigesetzte Radioaktivität von jedem der 440 aktiven Kernkraftwerke der Welt ausbreiten könnte. Viele der strahlenden Partikel flogen sehr weit, die Hälfte zum Beispiel ging weiter als 1000 Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt nieder, ein Viertel des nuklearen Ausstoßes flog sogar 2000 Kilometer weit.

Während dieser zweite Teil der Arbeit genau in der Expertise der Atmosphärenchemiker liegt, räumt Lelieveld ein, dass es über die Annahmen zur Häufigkeit nuklearer Unfälle verschiedene Meinungen geben kann. "Aber dann soll man auch sagen, wie man es besser macht", fordert er seine Kritiker heraus.

Die Mainzer haben recht simpel die Anzahl der Jahre, die sämtliche zivilen Kernreaktoren am Netz sind, durch die Anzahl der bisherigen Kernschmelzunfälle geteilt, bei denen große Mengen Radioaktivität freigesetzt wurden. Von diesen sogenannten Super-GAUs gab es vier: einen in Tschernobyl und drei in Fukushima. Das macht eine Katastrophe pro 3625 Betriebsjahre, was die Forscher auf eins zu 5000 abrunden.

Sie betrachten dabei die drei Ereignisse in Fukushima als unabhängig, weil jeder der Reaktoren dank separater Sicherheitssysteme mit der gemeinsamen Unfallursache allein hätte fertig werden sollen. Rechnet man von dieser Bilanz in die Zukunft hoch, könnten die 440 Reaktoren, die noch 20 bis 25 Jahre am Netz bleiben, in dieser Zeit noch zwei Kernschmelzen produzieren. Bisherige Sicherheitsanalysen aus den 1990er-Jahren besagten hingegen, es könnte mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent ein solches Ereignis geben. "Wir liegen also einen Faktor von 200 darüber", sagt Lelieveld.

Bei Experten für Nukleartechnik regt sich da Widerspruch. "Die Abläufe in Tschernobyl und Fukushima waren jeder für sich sehr speziell, es waren untypische Unfälle", sagt Horst Löffler von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit in Köln, der Gutachterfirma des Bundes in der Atomaufsicht. Trotzdem sagt er: "Ob man, mangels besserer Analysen, auf dieser Basis die mittlere Wahrscheinlichkeit für Kernschmelzen so abschätzen darf, das ist eigentlich keine wissenschaftliche Frage."

Unterstützung bekommt Lelieveld hingegen von Heinz Smital, Atomkraftexperte bei Greenpeace. "Es ist eine einfache Annahme, und sie differenziert nicht zwischen alten und neueren Reaktoren. Aber man müsste sehr viel Aufwand für eine andere Methode betreiben, ohne zu wissen, ob die Aussage dann belastbarer ist."

Risiko in Südwestdeutschland am höchsten

Der nächste Schritt in Lelievelds Analyse war, die mittlere Freisetzung von Radioaktivität abzuschätzen. Der Chemiker und seine Kollegen orientierten sich dabei am Fall Tschernobyl - "das ist für die zehn Prozent der schlimmsten Unfälle mit Kernschmelzen akzeptabel und für die übrigen 90 Prozent übertrieben", kritisiert Horst Löffler.

Atomkraftwerke: Eine Wasserstoffexplosion zerstört am 14 März 2011 den Reaktorblock 3 des Atomkraftwerks Fukushima-1. In dem Reaktor ist es zu einer Kernschmelze gekommen. Die Wahrscheinlichkeit solcher Unfälle ist Mainzer Wissenschaftlern zufolge deutlich höher als bislang angenommen.

Eine Wasserstoffexplosion zerstört am 14 März 2011 den Reaktorblock 3 des Atomkraftwerks Fukushima-1. In dem Reaktor ist es zu einer Kernschmelze gekommen. Die Wahrscheinlichkeit solcher Unfälle ist Mainzer Wissenschaftlern zufolge deutlich höher als bislang angenommen.

(Foto: AFP)

Danach haben die Mainzer Forscher die Strahlung, vor allem Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren und Jod-131 mit einer Halbwertszeit von acht Tagen, quasi dem Wind übergeben. Mit Atmosphärenmodellen haben sie die strahlenden Partikel im Computer verfolgt, bis diese nach etwa einer Woche zu Boden rieselten oder vom Regen ausgewaschen wurden.

Zu den Regionen, die dabei besonders häufig getroffen wurden, gehörten den Rechnungen zufolge der Nordosten der USA, Japan und Westeuropa. In Deutschland war es vor allem der Südwesten, entlang der Grenzen zu Frankreich und Belgien und zwischen Stuttgart und Köln. Die Menschen dort haben demnach wegen der vielen Kernkraftwerke der Umgebung ein Risiko von zwei Prozent pro Jahr, von einer Cäsium-Wolke getroffen zu werden.

Wegen der Wetterverhältnisse ist das Risiko im Mai und Juli besonders hoch, im Winter dafür niedriger. Umgerechnet bedeuten die zwei Prozent: Die Chance, 40 Jahre lang keinen Nuklearunfall zu erleben, liegt unter 45 Prozent. Als Kriterium für kontaminierte Gebiete verwendet Lelieveld dabei eine Definition der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien. Sie besagt, dass sich in den Regionen die natürliche Hintergrundstrahlung verdoppelt und der gängige Grenzwert für die radioaktive Belastung überschritten wird.

Der Atomausstieg im eigenen Lande, hat Lelieveld errechnet, halbiert für die Deutschen das Risiko einer Cäsiumwolke - größer ist der Effekt nicht. "Um die Gefahr der radioaktiven Belastung zu reduzieren, müsste der Ausstieg international koordiniert werden", sagt der Chemiker.

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