Atomkraft:Jedes Glas bricht einmal entzwei

Störfälle in Kernkraftwerken sind fast zur Gewohnheit geworden. Warum es völlige Sicherheit nie geben kann - und was das Ganze mit einer Milchflasche zu tun hat.

Ralf Bönt

Bei der jetzt wieder aufgeflammten Diskussion um die Sicherheit der Atomkraftwerke wird oft vergessen, mit welchem Grad von Hochtechnologie man es zu tun hat. Es ist ein Grad, der fasziniert, auf gefährliche Weise fasziniert.

Brunsbüttel

Schafe weiden in Brunsbüttel auf dem Deich vor dem Kernkraftwerk

(Foto: Foto: ddp)

Die Aussage, dass jeder Energieform eine Masse, und umgekehrt, dass jeder Masse eine Energie zugeordnet ist, hielt Einstein selbst für die wichtigste Erkenntnis der Relativitätstheorie. Masse ist nichts anderes als festgehaltene, das heißt gefrorene Energie. Multipliziert man die Masse eines Körpers mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit, so erhält man die der Masse äquivalente Energie: E=mc².

In relativ wenig Masse ist also erstaunlich viel Energie eingefroren. Ein Kilogramm Materie enthält Zigtausend Millionen Kilojoule. Nur zum Vergleich: Ein Erwachsener nimmt pro Tag etwa 8000 Kilojoule mit der Nahrung auf. In einem Kilo Masse steckt daher Energie für ein paar Millionen Jahre gutes Leben eines jeden von uns.

Zur Bereitstellung von Energie braucht man freilich Masse in einer brennbaren Form, es muss ein geeigneter Verbrennungsprozess zur Verfügung stehen. Nehmen wir ein Beispiel, das die Situation von Kernkraftwerken auf einer anderen Ebene deutlich macht: Ein Liter Milch etwa stellt - getrunken und damit den biologischen Zersetzungsprozessen ausgesetzt - ungefähr 600 Kalorien zur Verfügung, das sind etwa 2,7 Kilojoule.

Der Behälter platzt, irgendwann

Überlässt man den Liter Milch sich selbst, seinen eigenen Bakterien und den in der Luft vorkommenden, so baut er die 2,7 Kilojoule, vielleicht auch etwas mehr oder etwas weniger, langsamer ab, aber zersetzt wird sie werden.

Nach einigen Tagen emittiert sie in der Regel einen üblen Geruch, der durch alle Ritzen dringt. Man kann versuchen, die schlecht gewordene Milch im Kühlschrank luftdicht zu verschließen, um der Belästigung Herr zu werden. Doch kein im Haushalt zur Verfügung stehender Behälter würde dem bis zur vollständigen Zersetzung stetig sich erhöhendem Druck Stand halten.

Eine kleine Erschütterung, eine Änderung von Druck und Temperatur oder alles zusammen, wie es beispielsweise beim Öffnen der Kühlschranktür vorkommt, wird irgendwann genügen, um den Behälter zum Platzen zu bringen.

Das ist genau das Problem. Gut, man kann heute sicher leicht einen Hochdruckbehälter mit Schraubverschluss bauen, der auch einen Stromausfall, eine Überschwemmung, einen Wohnungsbrand, schlampige Haushaltsführung mit schlecht bedienten Verschlüssen, spielende Kinder, einen räuberischen Überfall, ein Erdbeben, stärkste Klima- und geologische Veränderungen sowie vielleicht sogar die Explosion einer Wasserstoffbombe aushält: warum nicht?

Nur: Würde man dies aus welchen irrationalen Gründen auch immer tun wollen, so wäre auch die Sicherheit dieser supertollen Milchflasche nur eine der Zeit. Das ruhig im Kühlschrank verwahrte Hochtechnologieprodukt würde - egal aus welchem Material, eines Tages, wenn auch sehr spät - ermüden und bersten, denn die Natur erreicht bei ihren Prozessen des Zerfalls immer und gesetzmäßig ihr Ziel. In der Ukraine käme man vielleicht auf die Idee, eine zweite Flasche um die erste zu bauen, und dann immer so weiter. Zum Glück ist saure Milch nicht besonders gefährlich und daher leicht zu entsorgen.

In geringsten Mengen tödlich

Bei Brennstoffen jedweder Art ist alles jedoch naheliegenderweise sehr viel gefährlicher. Bei der Spaltung von einem Kilogramm Uran 235 werden mehr als 80 Milliarden Kilojoule frei. Die Produkte sind in geringsten Mengen tödlich, und es gibt wenige Baumaterialien, die sie aufhalten können. Dazu verflüchtigen sie sich nicht schnell, sondern haben sich teils erst nach Jahrhundertausenden halbiert, nach mehreren Hundertausenden von Jahren ist von manchen von ihnen nur noch die Hälfte da.

Der Mensch glaubt, dies alles unter Kontrolle halten zu können und erzielt fantastische Leistungen auf diesem Gebiet, die ihn noch mehr faszinieren, von sich selbst. Aber wie alt ist eigentlich das älteste überlieferte von Menschen gemachte Zeichensystem?

Nein, es ist in keinster Weise Polemik wenn man sagt: Jeder Weg hat mal sein Ende, jedes Glas bricht einmal entzwei, nur die Liebe zum Atomkraftwerk, die ist, wie jede gute Liebe, blind.

Der Autor ist Quantenphysiker und Schriftsteller. Er hat am Kernforschungsinstitut CERN gearbeitet und zwei Romane veröffentlicht. Derzeit schreibt er an einem historischen Roman über den englischen Physiker Michael Faraday.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: