Atomkatastrophe von Fukushima:Der Rekordstrahlung auf der Spur

Die Strahlendosis, die ein Tepco-Arbeiter an einem Schornstein mitten im zerstörten Kraftwerk gemessen hat, war ein Schock: Zehn Sievert pro Stunde. Nun rätseln die Fachleute, wie sich die extrem hohe Zahl erklären lässt.

Christopher Schrader

Unter anderen Umständen wäre es eine Routinemessung gewesen, so hat es globale Schlagzeilen gemacht. Ein Arbeiter des japanischen Kraftwerksbetreibers Tepco steht, bekleidet mit einem weißen Schutzanzug, einen gelben Helm auf dem Kopf, vor einem Kamin. In der Hand hält er eine drei Meter lange Stange, eine sogenannte Messlatte. Das Instrument an deren Ende presst er gegen ein Seitenrohr des Schornsteins.

Fukushima Daiichi Nuclear Power Station

Ein Arbeiter von Tepco bei den Messungen an einem Schornstein auf dem Gelände des zerstörten Atomkraftwerks. Die gemessene Strahlenbelastung von zehn Sievert pro Stunde war ein Schock.

(Foto: dpa)

Der Messwert, den die Sonde erfasst, muss ihn erschreckt haben: mehr als zehn Sievert pro Stunde. Es ist die bislang höchste Strahlenbelastung, die in der havarierten Kraftwerksanlage Fukushima-1 registriert wurde. Die Zahl hat deren Betreiber, der Energiekonzern Tepco, am vergangenen Montag veröffentlicht, das zugehörige Foto am Dienstag.

Zehn Sievert pro Stunde ist eine erschreckende Menge an Radioaktivität. Wer dieser Strahlung 20 Minuten ausgesetzt wäre, hätte nur eine 50-prozentige Chance, den nächsten Monat zu überleben.

Der Arbeiter aber, so berichten japanische Medien, war drei Meter entfernt nur noch einer Dosisrate von 40 Millisievert ausgesetzt. Er habe bei der Messung, die demnach sechs Minuten gedauert haben muss, etwa vier Millisievert abbekommen.

Auch das ist nicht wenig, aber für Arbeiter in Kernkraftwerken durchaus im Rahmen: ein Fünftel der erlaubten Jahresdosis bei normalem Betrieb, weniger als ein Sechzigstel der sogenannten Havariedosis, die den Angestellten nach einer Katastrophe wie in Fukushima zugemutet wird.

Fachleute rätseln nun, wie sich die Zahlen erklären lassen. "Offensichtlich handelt es sich nicht um eine Freisetzung an die Umwelt", sagt Sven Dokter von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), die die deutsche Regierung in Nuklearfragen berät.

Der Schornstein stehe zudem mitten im zerstörten Kraftwerk. "Womöglich hat sich eine große Menge Nuklearmaterial im unteren Bereich des Kamins abgelagert, als in den ersten Tagen des Unglücks der Überdruck aus den beschädigten Reaktoren abgelassen wurde."

Die erhitzte Luft könnte damals aus einem waagerechten Seitenrohr in den Schornstein geströmt und gegen die gegenüberliegende Wand geprallt sein; Verwirbelungen hätten dann mitgerissene Teilchen strahlenden Materials an den Wänden konzentriert.

Nur langsame Fortschritte

Vielleicht hat inzwischen auch der Regen, wenn er von oben in den Kamin fallen konnte, den radioaktiven Staub nach unten gespült und verdichtet. Der Arbeiter mit der Messlatte jedenfalls muss, falls der Messwert von 40 Millisievert stimmt, zu seinem Glück in einem unsichtbaren Schatten gestanden haben, in dem die Strahlung stark abgeschirmt wurde.

Der Fund ist vermutlich kein Alarmzeichen für die japanische Bevölkerung. Außerhalb der Anlage nimmt die Strahlung seit Wochen langsam ab, Ausreißer nach oben sind in den regelmäßig veröffentlichten Daten nicht erkennbar. Der neue Spitzenwert unterstreicht aber, dass in Fukushima ein sehr ernstes Unglück geschehen ist, dessen Beseitigung eher Jahrzehnte als Jahre dauern wird.

Tatsächlich macht Tepco auch nur langsame Fortschritte. Am Montag wurde zum Beispiel das provisorische Kühlsystem am Abklingbecken des Reaktorblocks 4 eingeschaltet. An den Blöcken 2 und 3 läuft es seit Ende Mai und Anfang Juli; am Block 1 soll es in den kommenden Tagen fertig werden.

Die Anlagen wälzen das Kühlwasser um und entziehen ihm dabei die Wärme: Zuvor hatte der Betreiber Wasser von außen hineingepumpt und sich um dessen Verbleib zunächst nicht gekümmert. Genau das hatte weitere Probleme ausgelöst, weil sich in den Kellern radioaktiv verseuchtes Wasser sammelte, das seit einigen Wochen abgepumpt und gefiltert wird.

Aber erst Dienstag musst Tepco einräumen, dass 700 Tonnen Wasser durch ein Leck in ein Nebengebäude geflossen waren, wie man gerade erst entdeckt habe. Und mit dem Bau einer Sperrmauer, die die andauernde Verseuchung des Meeres stoppen soll, will die Firma erst gegen Ende dieses Jahres beginnen.

Auf all das hätte Japan vorbereitet sein können, schreibt die Zeitung Asahi Shimbun. Ihr wurde eine Studie des japanischen Außenministeriums zugespielt, das 1984 die Folgen eines totalen Stromausfalls in einem Kernkraftwerk untersucht hatte.

Die Ergebnisse waren dramatisch - und durchaus realistisch, wie die vergangenen Monate gezeigt haben. Die Leitung des Ministeriums hielt die Studie unter Verschluss, um eine nuklearfeindliche Stimmung zu vermeiden, berichtet die Zeitung. Nicht einmal das Büro des Ministerpräsidenten habe davon erfahren.

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