Atomkatastrophe in Japan:EU schwächt Grenzwert für verstrahlte Lebensmittel ab

Verbraucherschutz paradox: Die EU ändert wegen der nuklearen Katastrophe in Fukushima-1 die Grenzwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln aus Japan. Für die Zeit der Krise dürfen nun stärker strahlende Produkte eingeführt werden.

Markus C. Schulte von Drach

Nicht nur über die Gefahr durch radioaktive Strahlung herrscht große Unsicherheit. Wie die Behörden die Grenzwerte festlegen, ist genauso verwirrend. Das belegt derzeit die Reaktion der Europäischen Union auf das Reaktorunglück in Japan. So wurde der breiten Öffentlichkeit erst durch Hinweise der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch und des Umweltinstituts München bekannt, dass seit dem Wochenende in der EU andere Grenzwerte für die Radioaktivität in Nahrungsmitteln aus Japan gelten als zuvor.

Japanese Monitor Foods On Radiation Contamination Fears

Auf einem Markt in Tokio wird Fisch auf Radioaktivität überprüft. Die EU hat die Grenzwerte für Lebensmittel aus Japan abgeschwächt - das ist das übliche Verfahren im Falle eines nuklearen Unfalls.

(Foto: Bloomberg)

Gerade erst hatte Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) erklärt, dass "die EU ihre Sicherheitsmaßnahmen vorsorglich weiter erhöht", und dass künftig Lebensmittel aus den betroffenen japanischen Regionen "nur noch in Deutschland eingeführt werden, wenn sie in Japan streng kontrolliert und zertifiziert wurden". Viele Bürger dürften deshalb erwartet haben, dass die Grenzwerte verschärft würden. Das Gegenteil ist der Fall.

Der Reihe nach: Aufgrund einer Verordnung des Rates der Europäischen Union vom Juli 2008 dürfen "landwirtschaftliche Produkte mit Ursprung in Drittländern nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl" nicht mehr in die EU eingeführt werden, wenn die Radioaktivität von Cäsium-134 und Cäsium-137 zu hoch ist. Zu hoch bedeutet gemäß dieser Verordnung (EG) Nr. 733/2008 für Milch und Milcherzeugnisse sowie für Säuglingsnahrung eine Gesamtaktivität von 370 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg). Für alle anderen Nahrungsmittel liegt der Wert bei 600 Bq/kg.

An diese Werte hält man sich auch in Deutschland. Und wie ernst man sie nimmt, belegt etwa, dass Wildschweine, die in Süddeutschland aufgrund von Cäsium-Isotopen aus Tschernobyl häufig noch immer "strahlen", nicht verzehrt oder verkauft werden dürfen, wenn die Radioaktivität höher ist als 600 Bq/kg. Jäger erhalten in solchen Fällen eine finanzielle Entschädigung.

1987 allerdings, im Jahr nach der Tschernobyl-Katastrophe, hatte man sich in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf die Verordnung (Euratom) Nr. 3954/87 "zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation" geeinigt.

In einem solchen Fall gelten andere - höhere - Grenzwerte. Für Cäsium-137 und -134 etwa liegt der Höchstwert dann bei 400 Becquerel pro Kilogramm für Säuglingsnahrung, für Milchprodukte bei 1000 und für alle anderen Nahrungsmittel bei 1250 Bq/kg.

Der "nukleare Unfall oder eine andere radiologische Notstandssituation" ist nach Einschätzung der EU nun für Japan eingetreten. Und für japanische Produkte gelten deshalb jetzt die in dieser Verordnung festgelegten Grenzwerte. Wirksam wurde dies mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 297/2011 der Kommission vom 25. März 2011. Vorerst bis zum 30. Juni 2011 gelten also nun Grenzwerte, die mehr Strahlung durch Cäsium-Isotope erlauben als vor der Atomkatastrophe von Fukushima-1. Im Gegensatz zu dem EU-Dokument aus dem Jahre 2008 gibt die Verordnung auch Grenzwerte für Strontium-90, Jod-131 und Plutonium-Isotope vor.

Wirtschaft vor Verbraucherschutz?

Selbst Foodwatch und das Umweltinstitut sorgen sich derzeit nicht über möglicherweise strahlende japanische Produkte. Sie kritisieren jedoch heftig, dass die Bevölkerung vom Verbraucherschutzministerium nicht über solche Maßnahmen informiert wird. Die für den Bürger kaum verständliche Abschwächung der Grenzwerte diene dazu, japanische Lebensmittel weiterhin "in die EU einführen zu können", erklärt Christina Hacker vom Umweltinstitut München.

Umweltschützer kritisieren schon lange, dass die vorgesehene Entschärfung von Grenzwerten durch die Verordnung aus dem Jahre 1987 wirtschaftlich begründet sei. Auch hatte eine Expertengruppe der Europäischen Kommission nach der Katastrophe von Tschernobyl den weniger scharfen Grenzwert von 1000 Becquerel pro Kilogramm für Lebensmittel vorgeschlagen.

Dass die damalige EWG 1986 in einem Eilverfahren "vorläufige maximale Strahlungsgrenzwerte" (Verordnung (EWG) Nr. 1707/86) festlegte, die bis heute nicht verändert wurden, hatte demnach möglicherweise eher politische Gründe. So heißt es auch in der Verordnung aus dem Jahre 1987, diese Werte "tragen der Tatsache Rechnung, dass die Öffentlichkeit beruhigt werden [...] muss". Und in der Verordnung von 2008 erklärte die EU: "Diese gemeinsamen Modalitäten sollten die Gesundheit der Verbraucher schützen und ohne ungebührende Beeinträchtigung des Handels zwischen der Gemeinschaft und den Drittländern die Einheit des Marktes erhalten und Verkehrsverlagerungen verhindern."

Die Behörden und Politiker mussten und müssen abschätzen, was bei einem GAU oder Super-GAU tatsächlich passieren und was die Wirtschaft an Maßnahmen verkraften kann. In den Jahren nach Tschernobyl wurde darüber hinaus klar, dass die Gesundheitsfolgen radioaktiver Strahlung jenseits der Werte, die Strahlenkrankheit verursachen, sehr langfristig auftreten und sich kaum seriös einschätzen lassen. Das Vorgehen der EU belegt die Unsicherheit bezüglich der unsichtbaren Gefahren. Darüber hinaus vermittelt das Vorgehen der Behörden den Eindruck, dass die Sorgen der Bürger nicht ernst genommen werden und dass Wirtschaft vor Verbraucherschutz geht. Das dürfte das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik nicht gerade stärken.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Eindruck entstanden ist, die Europäische Kommission habe die neue Verordnung mehr oder weniger heimlich - und von den Medien deshalb mehrheitlich übersehen - beschlossen. Auch "Verbraucherschutzministerin Aigner verschweigt, dass die Sicherheitsstandards für japanische Lebensmittel gesenkt wurden", kritisiert Thilo Bode von Foodwatch.

Die Rechtfertigung des Verbraucherschutzministeriums, bisher habe es ja gar keine Grenzwerte für die Lebensmittel-Einfuhr aus Japan gegeben, ist tatsächlich genauso unbefriedigend wie der Hinweis der EU-Kommission, die schärferen Grenzwerte würden wieder in Kraft treten, wenn die Krise als beendet erklärt werde.

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