Atomanlage Tricastin:Zweiter Unfall in zwei Wochen

Kaum haben die Mitarbeiter der französischen Atomaufsichtsie die Öffentlichkeit über die Vorfälle in der Atomanlage Tricastin am 7. Juli informiert, da müssen sie einen weiteren Fall bekanntgeben.

Christopher Schrader

Die Mitarbeiter der französischen Atomaufsicht ASN sind nicht zu beneiden. Kaum hatten sie die Öffentlichkeit im Detail über die Vorfälle in der Atomanlage Tricastin am 7. Juli informiert, da mussten sie am Freitag einen weiteren Fall bekanntgeben. In einem Betrieb in Romans-sur-Isère in der Nähe von Grenoble war den Betreibern am Donnerstag aufgefallen, dass aus einer Leitung eine Uran-Lösung austrat. Offenbar war das Rohr schon seit Jahren schadhaft.

Atomanlage Tricastin: Atomanlage Tricastin: Schon seit Jahren Uran-Spuren im Grundwasser.

Atomanlage Tricastin: Schon seit Jahren Uran-Spuren im Grundwasser.

(Foto: Foto: AFP)

Die Fälle seien nicht vergleichbar, erklärte ASN sofort. In Romans seien maximal 750 Gramm Uran ausgetreten, aber in der Anlage geblieben. Das wäre ein Hundertstel der Menge, die in Tricastin bei Avignon in die Umwelt gelangt ist. Auch Bruno Chareyron von der atomkritischen Organisation Criirad sagt, die Auswirkungen für die Umwelt in Romans seien wohl gering. "Aber wie kann es denn sein, dass die ein solches Leck mehrere Jahre lang nicht finden?"

In Tricastin sind weit größere Fehler passiert, wie aus der Fachzeitschrift Nucleonics Week und Mitteilungen der ASN hervorgeht. Einige Tage vor dem Unfall beschädigte offenbar ein Baustellenfahrzeug ein Rückhaltebecken. Die Betreiber der Anlage machten sich aber nicht die Mühe, den Schaden zu beheben, womöglich weil die so gesicherten Tanks in einigen Wochen ersetzt werden sollten.

Dann ging am Abend des 7. Juli gegen 19 Uhr an einem der fünf Tanks mit uranhaltiger Flüssigkeit der Überlaufalarm los. Die Angestellte fanden die Ursache nicht und beschlossen daraufhin, die Meldung zu ignorieren.

Drei Stunden später fiel einem der Mitarbeiter zufällig auf, dass in dem Rückhaltebecken unter den Tanks Flüssigkeit stand. Wieder eine Stunde später, um 23 Uhr, erschien der Manager der Nachtbereitschaft. Die Mannschaft stellte nun fest, dass neben dem beschädigten Rückhaltebecken eine Lösung im Erdreich versickert war. Es dauerte vier Stunden, bis die Angestellten bemerkten, dass einer der fünf Tanks leer war.

Nach Wartungsarbeiten am Tag zuvor hatte jemand ein Ventil nicht komplett geschlossen. Und eine weitere Stunde später, also nach vier Uhr morgens am 8. Juli, erkannte das Team schließlich, dass radioaktive Uranlösung in die Abflüsse für Regenwasser gelaufen war.

Eilig hatten es die Männer auch dann nicht. Um 5.30 Uhr wurde Alarm in der Anlage ausgelöst, um 7.30 Uhr die Atomaufsicht ASN informiert. Und erst um 14 Uhr, also 19 Stunden nach dem ersten Alarm, erfuhren die Bürgermeister der umliegenden Gemeinden von dem Unfall.

Die ASN hat darum der bereits in früheren Jahren verwarnten Betreiberfirma Socatri vorgeworfen, nicht sofort "Nationalen Alarm" ausgelöst zu haben. Dann wären alle Behörden gleichzeitig benachrichtigt worden; die Verbote, in den anliegenden Flüssen und Bächen zu angeln oder Wasser zu verwenden, hätten um Stunden früher gegriffen.

Die Versäumnisse haben den Chef des Betriebs inzwischen seinen Posten gekostet. Daneben muss die Betreiberfirma strenge Auflagen erfüllen. ASN-Inspektoren hatten festgestellt, dass zwei der fünf Tanks leckten. Dann wurden von mehreren Grundwasserbrunnen rings um Tricastin verwirrende Messwerte bekannt.

So rückte eine Deponie ins Blickfeld, in der Abfälle von der Atombombenproduktion ohne weitere Abdichtung verscharrt worden waren. Darum, sagt der Criirad-Sprecher Chareyron, gebe es schon seit Jahren Uran-Spuren im Grundwasser. Die Anwohner machen sich daher Sorgen um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder. Und die Regierung in Paris hat angeordnet, das Grundwasser in der Nähe aller Reaktoren und Nuklearanlagen überprüfen zu lassen, um die Öffentlichkeit zu beruhigen.

Die Frage ist, ob ihr das gelingt. Ex-Umweltministerin Corinne Lepage beklagte nach dem zweiten Vorfall in zwei Wochen mangelnde Investitionen in die Sicherheit. Die Vorfälle hätten die Schwäche der Atomstromindustrie vor Augen geführt. Nachdem es sowohl in Tricastin als auch in Romans-sur-Isère jahrelang Probleme und Verstöße gegen Auflagen gegeben hat, liegt der Vorwurf der Schlamperei nahe. "Die Leute sind nicht vorsichtig genug", sagt Chareyron.

Keine "Anomalie", sondern ein "ernster Störfall"

Verwunderung dürfte auch auslösen, dass voraussichtlich beide Vorfälle auf der internationalen Ines-Skala der Atomunfälle, die von Null bis Sieben reicht, auf dem Niveau Eins eingestuft werden. Schon bald nach der Freisetzung in Tricastin hatten Umweltschützer moniert, der Unfall gehöre in die Kategorie Drei. Er wäre dann keine "Anomalie" mehr, sondern ein "ernster Störfall".

Zur Begründung verweist Heinz Smital von Greenpeace auf die Verfahrensregeln für die Ines-Einordnung. Demnach gehört ein Unfall in Kategorie Drei, wenn außerhalb des Geländes ein Mensch ungefähr so viel zusätzliche Strahlung abbekommen hat, wie die natürliche Hintergrundstrahlung in vielen Teilen Europas ausmacht.

Dafür hätte es genügt, ein halbes Gramm Uran aufzunehmen. Das wären drei Schnapsgläser der ursprünglich in Tricastin ausgeflossenen Lösung. Die Behörden halten das für ausgeschlossen: Da sich die Uran-Flüssigkeit in den Gewässern sofort stark verdünnt habe, habe es zu keiner Zeit eine Gefahr für die Bevölkerung gegeben, sagte Thierry Charles vom Institut für Strahlenschutz gegenüber Nucleonics Week.

Das sehen Umweltschützer anders. Angesichts der langen Zeitspanne zwischen dem Unfall und der Reaktion der Behörden hatte Stéphane Lhomme, Sprecher der Atomgegner Sortir du Nucléaire, direkt nach dem Unfall gesagt: "Es ist wahrscheinlich, dass jemand kontaminiertes Wasser getrunken und jetzt Ablagerungen in seinem Körper hat." Heinz Smital ergänzt: "Letztlich läuft es darauf hinaus, wer die Beweislast dafür hat, dass jemand geschädigt worden ist."

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