Archäologie:Und plötzlich war die Stadt erfunden

Wie entstanden die ersten Städte? Aus einem Wasservorkommen oder dem Machtstreben eines Herrschers heraus? Neue archäologische Funde im Nahen Osten zeigen eine weitere Möglichkeit auf. Die ersten Metropolen könnten sich aus verstreuten Siedlungen entwickelt haben, die sich allmählich verdichteten.

Hubert Filser

Es ist ein Ort, wie ihn nur Archäologen lieben können. Wer sonst würde monatelang umgeben von Wüstensand ausgedörrten Boden abtragen? In dieser Ödnis, 40 Kilometer von der glitzernden Kulisse von Kuwait-Stadt entfernt, fand Piotr Bielinski zunächst zerbrochene Tonscherben. Doch dann tauchten im kargen Untergrund Spuren von aufgeschichteten Steinen auf, Überreste rechteckiger Häuser - und schließlich sogar verzierte Keramik, Perlen und bearbeitete Muscheln.

Der Archäologe von der Universität Warschau ist auf eine ehemals hübsche und wohlhabende Siedlung gestoßen, in der vor 7000 Jahren rund hundert Menschen lebten. Bahra, so nennt man den Ort heute, hatte einst Meerblick, denn der Meeresspiegel war damals deutlich höher, sodass die Küste nur einen guten Kilometer entfernt lag.

Das alles wäre nur eine Randnotiz wert. Doch die neuen Funde aus Bahra zeigen erstmals, wie Städte entstanden sind: aus einem allmählich dichter werdenden sozialen und wirtschaftlichen Geflecht einer Großregion heraus - und nicht etwa, wie oft vermutet, weil an bestimmten Orten Wasser vorhanden war oder ein lokaler Herrscher seinen Einflussbereich sichern wollte (Science, Bd. 335, S. 790, 2012).

In Bahra und ähnlichen Siedlungen weiter oben entlang der Flüsse Euphrat und Tigris, also im heutigen Irak bis nach Syrien und in die südliche Türkei, können Archäologen nun deutlich erkennen, wie sich Beziehungen zwischen verstreuten Ansiedlungen langsam verdichtet haben, wie Waren von Bahra am Persischen Golf bis nach Syrien gelangten. Der über die Jahrhunderte ständig enger werdende Kontakt zwischen verschiedenen Sippen im südlichen und nördlichen Mesopotamien kulminierte dann vor 5500 Jahren in den ersten richtigen Städten mit zentraler Verwaltung und religiösen Anlagen, also zu einer neuen gesellschaftlichen Organisationsform.

Bahra ist Teil dieses Geflechts, meint Bielinski. In den vergangenen Jahren haben Archäologen nicht nur in Kuwait, sondern auch in Syrien, in Iran und in Saudi-Arabien an unterschiedlichen, weit verstreuten Orten Überreste ein- und derselben Kultur gefunden, der sogenannten Ubaid-Kultur. Die Funde sind zwischen 7500 und 6000 Jahre alt. Spannend ist, dass sie über ein so großes Gebiet verstreut sind und nicht einen Kernort haben, von dem aus eine Gegend quasi kolonialisiert wurde. Der Archäologe Gil Stein von der Universität in Chicago, der in Syrien gräbt, meint in Science: "Das ist die früheste komplexe Gesellschaft weltweit. Wer etwas über die Wurzeln der urbanen Revolution verstehen will, muss sich die Ubaid-Kultur ansehen." Das seien die Anfänge der modernen Zivilisation.

Macht der Tempel die Stadt?

Tatsächlich hat die These viel Charme, denn die Ubaid-Siedlungen liegen in unmittelbarer Umgebung der ältesten bekannten vollwertigen Städte Uruk und Ur im südlichen Mesopotamien, die rund 5500 Jahre alt sind. Triebfeder der Entwicklung sei, so meinen Bielinski und Stein, eine Art gemeinsame Identität der verstreuten Siedlergruppen gewesen und nicht die Macht eines einzelnen mächtigen Anführers. "Das ist ein wenig so wie in der Europäischen Union", sagt Stein, wo die Leute auch an eine gemeinsame Idee glaubten, aber ihre lokalen Eigenheiten bewahrten.

Doch liegen die Anfänge der Stadtentwicklung nicht doch weiter zurück? Schließlich haben Archäologen mit Jericho im heutigen Westjordanland und Çatal Höyük in Anatolien zwei Orte entdeckt, die deutlich älter sind. Das 11.000 Jahre alte Jericho hatte bereits Häuser aus Stein und einen für damalige Verhältnisse enorm hohen Turm: Neun Meter ragte der markante Bau in die Höhe, in seinem Inneren befindet sich die älteste Steintreppe der Menschheit. Der israelische Archäologe Ran Barkai meint, der Turm sei der erste konkrete Nachweis dafür, wie ein einzelner Führer sich mittels der Architektur gezielt Einfluss in der Gesellschaft verschaffen wollte. "In dieser Zeit begann die Hierarchie in der Gesellschaft", sagt er.

Seiner Vorstellung nach war der einzelne Machthaber die Triebfeder für die Entstehung von Städten. Çatal Höyük ist 2000 Jahre jünger, fällt aber ebenfalls durch repräsentative Elemente auf, und gleichzeitig durch aufwändige Inneneinrichtung der Häuser. Beides sind Zeichen einer fortgeschrittenen Entwicklung. Schilfmatten bedeckten den Boden, der in der Regel gestampft oder mit Gips versiegelt war. Manche Häuser hatten sogar einen bunten Terrazzobelag. Darauf standen zahlreiche geflochtene Körbe und Schalen aus Holz und Stein, in denen die Menschen Kleidung und Nahrungsmittel aufbewahrten. An den Wänden fanden sich dekorative Wandbilder von Leoparden, bemalte, mit Gips übermodellierte Tierschädel und vereinzelt auch Spiegel aus Obsidian, einem glasartigen, vulkanischen Gestein. Viele Häuser hatten eine abgetrennte, kleine Vorratskammer. Öfen spendeten Wärme in kalten Nächten. Mehrere tausend Menschen lebten damals in Çatal Höyük.

Doch weder dort noch in Jericho haben Archäologen zentrale Einrichtungen wie Verwaltungsbauten, Tempelanlagen oder andere öffentliche Gebäude entdeckt. Daher sind sich viele Wissenschaftler einig: Es handelte sich noch nicht um vollwertige Städte.

Der Berliner Archäologe Klaus Schmidt hat sich vor ein paar Jahren mit einer radikalen These zur Entstehung von Städten in die Diskussion eingemischt. "Erst der Tempel, dann die Stadt" lautet seine griffige These. Schmidt, Ausgräber der berühmten Kultanlagen auf dem Göbekli Tepe im Südosten der Türkei, der ältesten Monumente der Menschheit, vermutet die Religion als Taktgeber der Zivilisation. Demnach haben Menschen, ehe sie sesshaft wurden, ihre heiligen Anlagen gebaut. Aus diesem Geist seien Städte entstanden. Schon vor 12.000 Jahren habe der gemeinsame Kult Sippen in einem Umkreis von 200 Kilometern rund um den Göbekli Tepe zusammengehalten. Religiöse Rituale wären demnach der Nährboden, der auch ganze Stadtgemeinschaften zusammenhalten kann.

Mit der Stadt kam der Krieg

Vielleicht liegen die Argumente von Klaus Schmidt auf der einen, sowie Piotr Bielinksi und Gil Stein auf der anderen Seite gar nicht so weit auseinander. Beide vermuten, dass es einen Kitt gibt, der verstreute Gruppen zusammenhält. Ob das nun Religion ist oder eine überregionale Kultur und intensive wirtschaftliche Beziehungen, ist sicher ein Streitpunkt. Doch in beiden Fällen wäre eine zunehmende Komplexität der sozialen Beziehungen der Nährboden für eine städtische Kultur mit einer neuartigen Organisationsform, mit Arbeitsteilung und Verwaltungsanlagen. "Es gibt eine direkte Verbindung zwischen dem Anstieg an kulturellen Wechselbeziehungen und dem von kultureller Komplexität", schreibt der Harvard-Archäologe Carl Lamberg-Karlovsky in Science.

Die Frage ist, wie man diese zunehmende Komplexität misst. Tempelanlagen tauchen nach Göbekli Tepe immer wieder vereinzelt mal auf, auch in der Nähe von Uruk liegen die fast 7000 Jahre alten Tempel von Eridu. Sogar die Ausgräber von Bahra dachten anfangs, sie hätten inmitten eines Hauses in einem großen, mit Steinen ausgelegten Raum eine Art Altar entdeckt. Doch tatsächlich, so sagen die polnischen Archäologen, war der Tisch das Zentrum einer Werkstätte, in der Muschelperlen mit Feuersteinbohrern bearbeitet wurden. Die Erzeugnisse sind dann offenbar bis in entlegene Regionen exportiert worden.

Solche Spuren finden sich an vielen Orten, zum Beispiel tauchen die Keramiken der Ubaid-Kultur in einem 2000 Kilometer langen Streifen zwischen Iran und der Türkei auf, oft sind stilisierte Bilder von tanzenden Menschen oder von Tieren darauf zu sehen. In Syrien hat Gil Stein sogar Tonsiegel gefunden. Sie dienten dazu, Waren zu markieren und so den Handel zu kontrollieren - ein wichtiger Beleg für zunehmende Komplexität, für den Anfang von Verwaltung und Beamtentum. In Mesopotamien ist also die Bürokratie erfunden worden. Aus den Zeichen auf den Siegeln und kleinen Tontafeln ist übrigens später auch die Schrift entstanden. Sie ist nicht erfunden worden, um religiöse Texte oder eine Art Schöpfungsgeschichte aufzuschreiben, sondern um Banalitäten des Alltags zu regeln.

Es wirkt, als sei durch diese Prozesse eine Maschinerie in Gang gesetzt worden, die in zunehmendem Tempo Neuerungen hervorbringt. Und zwar nicht nur an einem Ort, sondern überall im Land. Es sieht so aus, als ob gerade der intensivierte geistige Austausch und die sozialen Beziehungen zwischen den verstreuten Gruppierungen der Motor waren. Neue Berufe tauchen auf, neue Techniken, es ist ein gewaltiger Innovationsschub. So lernen die Menschen, Baumwolle zu spinnen und zu Stoffen zu verarbeiten, sie verfeinern Bautechnik, können nun verschiedene Sorten Bier brauen, Kneipen entstehen. Aufgrund der Arbeitsteilung bildet sich auch eine Hierarchie heraus. Dies habe, sagt Piotr Bielinski, den Blick auf sich selbst und das Verhältnis zu anderen verändert.

Es ist eine rasante Entwicklung, die nicht nur positive Folgen hat. Schon bald nach der Gründung der ersten Städte gibt es den ersten richtigen Krieg, mit eigens zum Angriff entwickelten Waffen, Kugeln aus gebranntem Ton. Truppen aus Uruk attackierten vor 5500 Jahren die benachbarte Stadt Hamoukar, plünderten und zerstörten die konkurrierende Macht. In den eingestürzten Mauern fanden Forscher Jahrtausende später noch die zehn Zentimeter großen Wurfgeschosse.

Für Archäologen ist es ein Glücksfall, wenn sie in einer Region solch fundamentale Entwicklungen nahezu lückenlos verfolgen können. Es gäbe noch unendlich viel zu entdecken im Wüstensand. Doch weitere Grabungen, vor allem in Iran, in Irak und nun auch in Syrien sind aufgrund der politischen Verhältnisse schwierig oder fast unmöglich geworden.

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