Archäologie:Tauchgang zum Ur-Computer

Eine geheimnisvolle 2000 Jahre alte astronomische Uhr fasziniert Laien und Historiker: Der Antikythera-Mechanismus gilt manchen als ältester Computer der Welt. Jetzt soll eine neue Tauchexpedition fehlende Teile des Wunderwerks aufspüren.

Von Hubert Filser

Mechanismus von Antikythera äußerst komplexer Sternenkalender

Der Ur-Computer: Nach Jahrhunderten im Meerwasser blieben vom Antikythera-Mechanismus nur Metallklumpen übrig, aus denen man das Gerät rekonstruierte.

(Foto: dpa)

Wenige Wochen noch, bis die Winterstürme vor der griechischen Insel Antikythera nachlassen, dann kehren die Taucher zurück. Von der Yacht Glaro aus werden sie in die Tiefe hinab gleiten zu dem Wrack eines römischen Handelsschiffes, das an den steilen Flanken der Insel um 70 vor Christus in einem Sturm versank. Im vergangenen Herbst hatte heftiger Seegang die Archäologen zum Abbruch ihrer Arbeiten gezwungen. Zuvor hatten sie bereits einen Bronzespeer gefunden, eine Bronzescheibe, Amphoren - nur die eigentlich gesuchten Objekte waren noch nicht dabei.

"Return to Antikythera" nennen die Forscher ihre Mission, denn sie ist - mehr als 114 Jahre nach der Entdeckung des Wracks - die erste große Tauchexpedition zu dem Schiff; eine kleinere gab es 1976 unter dem Meeresforscher Jacques Cousteau. "Es ist die Titanic der antiken Welt", sagt der Archäologe Brendan Foley vom Ozeanographischen Institut Woods Hole in Massachusetts, denn mit einer Länge von mehr als fünfzig Meter könnte es sich um das größte bekannte Schiff der Antike handeln. Dabei interessieren sich die Forscher weniger für das Schiff selbst. Sie suchen vielmehr nach weiteren Bauteilen eines geheimnisvollen Räderwerks, das unter dem Namen Antikythera-Mechanismus berühmt wurde. Mit bislang fehlenden Zahnrädern und Zeigern , so die Hoffnung, wird man dem Gerät vielleicht seine letzten Geheimnisse entlocken.

Im Herbst 1900 hatten griechische Schwammtaucher das Schiffswrack vor Antikythera entdeckt, das nördlich von Kreta an einer antiken Seehandelsroute liegt. Nur mit einem Kupferhelm auf dem Kopf und mit einem Schlauch zur Sauerstoffversorgung mit der Oberfläche verbunden, erkundete dann eine Mannschaft um den Kapitän Dimitros Kontos das Schiff. Als erstes holten sie den Bronzearm einer Statue hoch. Im Sommer darauf bargen sie weitere Schätze aus dem römischen Schiff, das auf einer Fahrt von Kleinasien Richtung Italien gesunken war - völlig überladen, wie sich später herausstellte. Sie fanden Statuen, Münzen, Amphoren für Wein und Olivenöl in großer Zahl, und eben diesen kleinen hölzernen Kasten mit griechischer Inschrift darauf.

Angesichts der prächtigen Schätze beachtete jahrzehntelang niemand den unscheinbaren Fund, der sich später als größter Schatz des Schiffes erweisen sollte. Keiner konnte etwas anfangen mit den vom Salzwasser zerfressenen Zahnrädern, mit den bronzenen Platten und verblassten Inschriften in Altgriechisch. Erst aufwendige Berechnungen und Aufnahmen im Computertomografen lösten die ersten Rätsel des Antikythera-Mechanismus. Er erwies sich als eine astronomische Uhr von größter Komplexität, manche Autoren nennen ihn den ältesten Computer der Welt.

Heute weiß man, dass das verrostete Getriebe einst den Stand der Sonne und des Mondes am Himmel anzeigen konnte. Es konnte sogar die Mondphasen mittels eines sich drehenden schwarz-weißen Balls darstellen. Mit ihm ließen sich die Bahnwendepunkte der damals bekannten fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn berechnen, sowie der Tag, an dem sie zuerst und zuletzt am Nachthimmel auftauchten. Die Maschine war sogar in der Lage, Sonnen- und Mondfinsternisse fast auf die Minute genau vorherzusagen. Sie zeigte die Daten Olympischer Spiele an und die weiterer sportlicher Großereignisse in Korinth oder Nemea. Vielleicht hat das Gerät die totale Sonnenfinsternis in Kleinasien im April des Jahres 136 vor Christus vorhergesagt. Das hätte die Menschen damals ungeheuer beeindruckt.

Zuvor wurde noch nicht einmal ein Zahnrad aus der Antike gefunden

Der Bediener musste lediglich an einer Kurbel an der Seite des Geräts drehen, dann griffen im Inneren Dutzende feine Zahnräder ineinander. Von außen wirkte es so, als würden wie von Geisterhand Zeiger über die an der Frontseite gemalten Inschriften und Darstellungen der Planetenbahnen und Sternkonstellationen am Himmel wandern. Da muss also jemand vor mehr als 2000 Jahren in der Lage gewesen sein, die Himmelszyklen mit einer differenzierten Mechanik abzubilden. Hunderte von Einzelteilen wurden auf brillante Weise zu diesem Räderwerk zusammengefügt. Das ist umso erstaunlicher, da zuvor noch nicht einmal ein Zahnrad aus der Antike gefunden worden ist. Es gibt keinen annähernd vergleichbaren Fund - nur ein paar schriftliche Hinweise auf Räderwerke in Mühlen. Aber eine derart komplexe Feinmechanik beherrschte man erst wieder im Mittelalter.

War der griechische Mathematiker Archimedes der Konstrukteur?

Archäologie: Mit seinem druckfesten Taucheranzug aus Metall kann der Taucher eine Tiefe von 150 Metern erreichen.

Mit seinem druckfesten Taucheranzug aus Metall kann der Taucher eine Tiefe von 150 Metern erreichen.

(Foto: Seymour/AP)

Vielleicht birgt der Antikythera-Mechanismus noch weitere Geheimnisse. So ist bislang nur der Hauptteil des Geräts gefunden worden, weitere, vielleicht wichtige Bruchstücke fehlen. Genau diese hofft nun die neue Tauchexpedition zu finden. "Bei den bisherigen Expeditionen ist nur ein Teil des Fundorts untersucht worden", sagt Aggeliki Simossi, Leiterin der griechischen Behörde für Unterwasser-Altertümer.

Unklar ist auch, wer den Mechanismus konstruiert, wann er gebaut und wo er verwendet wurde. Bislang ist er nur indirekt anhand der im Schiff gefundenen Münzen und Glasbehälter datiert. Als das Schiff vor 2000 Jahren sank, war das Räderwerk aber schon einige Zeit in Gebrauch. Darauf deuten ausgetauschte und ausgebaute Zahnräder.

Der amerikanische Physiker James Evans von der Universität von Puget Sound in Tacoma hat nun einen neuen Datierungsversuch unternommen. "Wir glauben, dass der Erbauer die damals aktuellsten, babylonischen Astronomie-Modelle verwendete", sagt Evans. So beschleunigte in der Vorstellung der Babylonier der Mond auf seinem Weg am Himmel durch ein Tierkreiszeichen zunächst und bremste dann wieder ab. Auch die Sonne bewegt sich in der einen Jahreshälfte schneller. Genau dieses Muster findet sich beim Antikythera-Mechanismus, wie der Physiker jetzt belegen konnte. In einem 82-seitigen Text (Archive for History of Exact Sciences, Bd. 68, S. 693, 2014) zeigt er detailliert, dass hinter dem Vorhersagemechanismus für die Sonnenfinsternisse babylonischen Modelle stecken - und nicht die griechische Trigonometrie.

Zudem deuten bestimmte Schalterstellungen und Eicheinstellungen des Mechanismus an, für welche Zeit der Mechanismus sinnvolle Voraussagen macht. Laut Evans hätte der Apparat praktisch perfekte Ergebnisse für die Jahre zwischen 205 bis 187 vor Christus geliefert. Evans zieht daraus den Schluss, dass das Gerät aus der Zeit um 205 vor Christus stammt. Es wäre damit mehr als hundert Jahre älter als bisher angenommen. Aber noch eine andere Interpretation ist möglich: Es kann auch sein, dass der Erbauer seinen Computer für künftige Ereignisse möglichst gut kalibrieren wollte und sich für die exakten babylonischen Daten der Jahre 205 bis 187 als Eichpunkte entschied. Dann wäre der Mechanismus sogar noch etwas jünger als vermutet.

Immer wieder spekulieren Autoren auch, dass der berühmte Mathematiker Archimedes der Schöpfer gewesen sein könnte. Sie berufen sich auf einen Text von Cicero, in dem der römische Politiker und Schriftsteller ein Instrument beschreibt, das Archimedes gebaut habe, als er im 3. Jahrhundert vor Christus in der sizilianischen Stadt Syrakus lebte. "Die Erfindung des Archimedes verdient unsere besondere Bewunderung, weil er durchkonstruiert hat, auf welche Weise er bei differierenden Bewegungsgeschwindigkeiten die ungleichen und unterschiedlichen Bahnen mit nur einer Umdrehung einhielte. Als Gallus dieses Planetarium in Bewegung setzte, geschah es tatsächlich, dass der Mond immer der Sonne um genau so viele Umdrehungen auf dem Bronzeapparat nachlief wie um Tage am wirklichen Himmel."

Stimmen aber die Berechnungen des Physikers Evans, könnte allenfalls ein Schüler von Archimedes der Erbauer gewesen sein. Evans hält sich zurück: "Wir wissen wenig über die griechische Astronomie", sagt der Forscher. "Es ist vielleicht besser, das Ganze nicht einer einzelnen bekannten Person zuzuschreiben." Bei einem ist er sich aber sicher. "Der Erbauer muss sehr gut sowohl in Astronomie wie in Mathematik gewesen sein. Und er muss eng mit einem überaus fähigen Mechaniker zusammengearbeitet haben."

In jedem Fall wäre es wunderbar, so Evans, wenn bei den kommenden Tauchgängen vor Antikythera weitere noch fehlende Teile des antiken Computers entdeckt würden. Dann ließen sich seine Berechnungen auch noch genauer abgleichen. "Vielleicht finden wir sogar noch weitere Geräte wie den Antikythera-Mechanismus", sagt Aggeliki Simossi. Im Herbst konnten die Taucher nämlich nur bis in Tiefen von 60 Metern vordringen. Mit besserer Ausrüstung werden sie nun bis zu 150 Meter tief tauchen. Wer weiß, vielleicht finden sie dort auch ein Bruchstücke des Ur-Computers, auf dem sich der Erfinder mit seinem Namen verewigt hat.

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