Archäologie:Menschen im Müll begraben

Captives Being Brought On Board A Slave Ship On The West Coast Of Africa (Slave Coast) C1880

Sklavenschiff aus Westafrika, um 1880.

(Foto: Hulton Archive/Getty Images)

In einer sechs Meter dicken Abfallschicht entdeckten Bauarbeiter nahe der portugiesischen Stadt Lagos tausende menschliche Knochen. Es ist der älteste Sklavenfriedhof Europas.

Von Hubert Filser

Das jüngste Kind war gerade mal drei Jahre alt, als es starb. Einige der Erwachsenen hatte man vor ihrem Tod sogar gefesselt; ihre Leichen warf man später über die Stadtmauer von Lagos in Portugal. Und so lagen dort unbemerkt die Überreste von 158 Menschen, bis im Jahr 2009 Bauarbeiter im Ortsteil Valle da Gafaria plötzlich auf die Knochen stießen, in einer meterdicken Schicht städtischen Abfalls aus dem 15.

bis 17. Jahrhundert. In einer anschließenden Notgrabung fanden Archäologen Tausende menschliche Knochen - eine Überraschung für die Wissenschaftler um Maria Teresa Ferreira von der Universität Coimbra. Denn, wie man inzwischen weiß, entdeckten die Bauarbeiter den bislang ältesten Sklavenfriedhof der europäischen Geschichte. Ähnliche Grabstätten sind nur aus der Neuen Welt bekannt und auch deutlich später entstanden. "Wir hatten dort Dinge wie Tonscherben oder Tierknochen von Schweinen, Ziegen oder Hühnern erwartet, aber nicht die Knochen von 158 Menschen aus Afrika", sagt Ferreira.

Nur ein ehemaliges Leprahaus vor der Stadtmauer war ihnen bereits bekannt gewesen, die Überreste von elf leprakranken Menschen hatten die Archäologen im Laufe der Notgrabung an einer zweiten Fundstelle seitlich der Mauer aufgespürt. Sie waren alle ordentlich bestattet worden, im Gegensatz zu den Sklaven. Deren Leichen nämlich hatte man offenbar achtlos über die Stadtmauer in eine Abfallgrube geworfen. Im Laufe der Zeit wurden die Toten dann immer mehr mit Müll und Erde bedeckt - und vergessen.

107 erwachsene Männer und Frauen und 49 Heranwachsende holten die Forscher aus ihrer unwürdigen Grabstätte. Bei zwei weiteren Menschen ließ sich das Alter nicht mehr bestimmen. Auffällig wenig persönliche Gegenstände lagen bei den Knochen: ein Armreif, ein paar Ringe und Halsketten, ein Glasfläschchen und ein kleiner Stab aus Elfenbein.

Maria Ferreira wusste bereits, dass Lagos Mitte des 15. Jahrhunderts der wichtigste europäische Hafen für Sklaven war, anfangs sogar wichtiger als Lissabon. Doch wollte die Archäologin herausfinden, ob die Toten tatsächlich Sklaven aus Afrika waren. Konnte man aus den Knochen ablesen, welches Schicksal sie fern der Heimat erfahren hatten? Und wann und woran waren die Menschen gestorben, die man so achtlos über die Stadtmauer geworfen hatte?

Die Anthropologen begannen, die Skelette wissenschaftlich zu untersuchen, die deutsche Gerda-Henkel-Stiftung unterstützte das Projekt. Die Forscher säuberten die Knochen, katalogisierten und vermaßen sie. Das Team um Ferreira ermittelte zunächst Basisdaten der Individuen wie Größe, Geschlecht, Alter, Verletzungen, Gesundheitszustand. Wie ein Puzzle seien die Knochen der Skelette, sagt Ferreira. Ein Puzzle, bei dem allerdings einige Teile fehlen oder kaputt sind. Immerhin lagen die Knochen der meisten Toten noch gut erkennbar beisammen, nur wenige lagen verstreut herum. Einmal zugeordnet, wurde jedes Fundstück mit modernster 3-D-Technik einzeln digitalisiert. Mittlerweile existiert eine umfangreiche Datenbank, auf die auch Forscher aus anderen Ländern zugreifen können.

Die Afrikaner litten an Arthrose im Knie, die beim Gehen große Schmerzen verursachte

Die Analyse von Knochen ist so wertvoll, weil sie wichtige Informationen über das Leben der jeweiligen Menschen speichern, auch über das elende Dasein der Sklaven. "Viele von ihnen waren mangelernährt und hatten als Kinder unter langwierigen Erkrankungen gelitten", sagt Ferreira. Die Forscher fanden auch zahlreiche Knochenbrüche, die nicht richtig behandelt worden waren, an einigen Oberschenkelknochen ist der schlechte Heilungsprozess bis heute zu erkennen. Viele der Verletzungen zeigen, wie hart die Menschen wohl einst gearbeitet haben, berichtet Ferreira. Einer der Sklaven etwa hatte sich kurz vor seinem Tod offenbar schwer verletzt, vielleicht ist er auch daran gestorben. Die Verletzungen konnten jedenfalls nicht mehr ausheilen. "Wir können eine Gewalteinwirkung daher nicht ausschließen", sagt Ferreira.

Viele der 158 Sklaven spürten die Folgen ihrer harten Arbeit. Sie litten an Arthrose im Knie, die beim Gehen große Schmerzen verursachte, Veränderungen im unteren Wirbelsäulenbereich, manche Wirbelknochen waren durch das Tragen schwerer Lasten krankhaft verändert, Rückenschmerzen waren die Folge. Obwohl die meisten Sklaven zum Zeitpunkt ihres Todes noch jung waren, zeigen ihre Knochen schon zahlreiche Schäden. Und nicht nur das - viele von ihnen litten an Karies, was auf eine stärkereiche Ernährung mit viel Getreide hinweist. Die Forscher stellten auch Zahnwurzelentzündungen fest, viele der Kiefer waren verändert, alles Anzeichen für eine Mangelernährung.

Das Schicksal der Sklavenkinder

Wie es den Sklavenkindern erging, hat der Archäologe Hugo Cardoso von der Simon-Fraser-Universität im kanadischen Burnaby untersucht. An den Knochen von 23 Kindern im Alter bis zu 12 Jahren konnte er ablesen, dass auch sie schon unter erheblichem Stress gelitten hatten, so berichtete es Fraser auf einer Tagung amerikanischer Anthropologen in Atlanta. Ob das an der kräftezehrenden Überfahrt aus Afrika lag, der harten Arbeit oder der schlechten Ernährung, können Archäologen heute nicht mehr klären. Doch war das Wachstum der Kinder im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen aus Afrika verlangsamt. Und die Sklavenkinder aus Lagos waren auch nicht so gut genährt wie solche aus den USA, das ergaben entsprechende Funde auf amerikanischen Friedhöfen.

Unstrittig war also, dass die Sklaven ein hartes Leben geführt hatten. Doch stammten die Toten wirklich aus Zentralafrika? Die Form der Schädel und weitere Maße wie die Größe der Nasenhöhle oder der Augenabstand legen dies nach Ansicht der portugiesischen Anthropologen nahe. Vor allem aber fiel ihnen die Form der Zähne auf. Bei mehr als der Hälfte stellten die Forscher nämlich Veränderungen fest. Oft waren die Zähne seitlich oder mittig an den Schneidezähnen zugeschliffen, teilweise sehr spitz. Solche abgefeilten Zähne seien typisch für Bewohner Zentralafrikas, sagt Zahn-Expertin Sofia Wasterlain von der Universität Coimbra.

Der Sinn des Abschleifens ist nicht ganz klar. Möglicherweise ging es den Menschen einst darum, eine Gruppenzugehörigkeit deutlich sichtbar zu machen. Die verschiedenen Feilmuster waren wohl in verschiedenen lokalen Gruppierungen in Zentralafrika üblich. Auch eine genetische Untersuchung von zwei Skeletten bestätigte den Verdacht auf die Herkunft der Sklaven. Ihre genetischen Marker weisen auf eine westafrikanische Herkunft hin, sie ähneln denen heutiger Bantu-Stämme in der Region.

Im Mittelalter hielten sich die Wikinger Sklaven, die sie auf Raubzügen aus deren Heimat verschleppt hatten

Aber waren es tatsächlich die ersten afrikanischen Sklaven in Europa? Um das zu herauszufinden, datierten die Anthropologen die Knochen jener Individuen, die ganz unten in der Müllschicht gelegen hatten. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Die ältesten Skelette aus Lagos stammen aus der Zeit zwischen 1440 und 1450. Der Fund stellt damit den ältesten direkten Nachweis von Sklaven in Europa dar. Und er stammt wohl von den ersten Sklaven aus Afrika überhaupt.

Sklaverei ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Die Leistungen der klassischen Antike wären nicht denkbar gewesen ohne die Versklavung von Menschen, sagt etwa der Althistoriker Winfried Schmitz von der Universität Bonn. Sklaven waren damals sehr teuer, sie kosteten etwa so viel Geld, wie eine Familie pro Jahr zur Ernährung brauchte. Auch im Mittelalter hielten sich zum Beispiel die Wikinger Sklaven. Menschen, die sie zuvor auf Raubzügen aus ihrer Heimat verschleppt hatten.

Und auch das westliche Europa mischte beim Menschenhandel kräftig mit, auch wenn es das Thema bis heute eher verschweigt. "Der massive atlantische Menschenhandel zwischen 1450 und 1880 wurde und wird marginalisiert", schreibt der Historiker Michael Zeuske in seinem Handbuch "Geschichte der Sklaverei". Sein Fazit: Ohne Sklaven- und Menschenhandel gäbe es kein Europa. "In der Neuzeit war Europa vor allem in seinen westlichen Teilen die Heimat der Profiteure des globalen Sklaven- und Kinderhandels", so Zeuske.

Historiker schätzen, dass etwa 12,5 Millionen Sklaven im Lauf der Jahrhunderte über den Atlantik gebracht und verkauft wurden. Und genau dieser Menschenhandel nahm in Lagos seinen Anfang. Die Stadt war der erste zentrale Umschlagplatz für Sklaven in Europa. Erst danach fuhren die Schiffe weiter nach Lissabon oder Sevilla oder zu anderen Häfen im Mittelmeer oder in Nordeuropa. Historische Dokumente erwähnen Schiffe, die um 1440 mit Sklaven aus Afrika an Bord in Lagos anlegten. Der Sklavenmarkt der Stadt ist ab dem Jahr 1444 belegt, das alte Marktgebäude steht noch heute. Historische Augenzeugen beschrieben eine Auktion von 1445 als "schreckliche Szenerie voller Elend und Chaos".

Anfangs wurden jährlich etwa 800 Afrikaner in Lagos verkauft, im 16. Jahrhundert verlagerte sich der Handel nach Lissabon, dort waren es deutlich mehr als 10 000 Menschen. "In Lissabon wurden die Sklaven bereits getauft und nach ihrem Tod auch nach christlichem Ritus bestattet", sagt Ferreira. "Das ist ein weiteres Indiz, dass die 158 Toten zu den ersten Sklaven überhaupt gehörten."

Portugal spielte also im 15. Jahrhundert eine Schlüsselrolle im Sklavenhandel. Dazu trug auch eine technische Neuerung bei. Heinrich der Seefahrer, der jüngere Bruder des portugiesischen Königs, ließ damals die sogenannten Karavellen entwickeln, sie waren schneller und hatten weniger Tiefgang als andere Schiffe. Nur so gelang es den Seeleuten, das gefürchtete Kap Bojador zu überwinden und Zentralafrika zu erreichen.

Heinrich ließ seine Schiffe von Lagos aus Richtung Afrika ausfahren. Als erste Nation errichtete man in Zentralafrika einen Handelsposten, auf einer Insel vor der Küste Mauretaniens. Und in den Listen der Handelsgüter finden sich neben Gewürzen, Gold oder Elfenbein auch Sklaven. Die Erträge aus dem Menschenhandel halfen Portugal damals, zu einer internationalen Seemacht aufzusteigen.

Wie es den Sklaven dabei erging, kümmerte die Mächtigen damals wenig. Bis heute ist kaum etwas über das Leben dieser Menschen bekannt. "Sie haben Ungerechtigkeit erfahren, es ist unsere Aufgabe, ihnen eine Stimme zu geben", sagt Ferreira. Auch deshalb wollen die Anthropologen die Geschichte der Sklaven weiter erforschen. Und seit mehr als einem Jahr beherbergt ein kleines Museum in Lagos Informationen über die Geschichte der Sklaverei mit Hinweisen auf die 158 Toten.

Am Fundort der Opfer steht inzwischen ein Parkhaus, auf dessen Dach die Besucher Minigolf spielen können. Einen Hinweis auf die toten Sklaven sucht man bisher vergeblich.

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