Archäologie:Das Dorf der Zombies

Archäologie: Die Knochen lagen außerhalb des Friedhofs von Wharram Percy.

Die Knochen lagen außerhalb des Friedhofs von Wharram Percy.

(Foto: Historic England)

Knochen aus einem mittelalterlichen Dorf in England deuten darauf hin, dass die Leichen wieder ausgegraben wurden, um ihnen den Kopf abzuschneiden - vermutlich aus Angst vor Untoten.

Von Esther Widmann

Die Gegenwart ließe sich auch als Epoche der Zombies bezeichnen. Die Untoten beherrschen Filme, tauchen in Serien auf oder werden zuverlässig in Gesprächen über den eigenen Grad der Erschöpfung oder Müdigkeit angeführt. Zombies sind fester Bestandteil der Popkultur.

Vor einigen Jahrhunderten plagte die Menschen an manchen Orten jedoch offenbar wirklich die Angst, die Toten könnten sich aus ihren Gräbern erheben und Jagd auf die Lebenden machen. Diese Furcht könnte etwa zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert Menschen in Nordostengland verunsichert haben: So weisen Knochen von mindestens zehn menschlichen Individuen aus dem Dorf Wharram Percy Schnittspuren auf, die auf eine absichtliche Verstümmelung kurz nach dem Tod hinweisen.

Nach Ansicht von Archäologen ist die wahrscheinlichste Erklärung für diesen Fund, dass so die Körper potenzieller Wiedergänger exorziert werden sollten. Anders gesagt: Die Leichen wurden verstümmelt, damit sie als Zombies nicht mehr so agil auftreten könnten.

Die Schnittspuren waren die dritte Auffälligkeit

Die erst jetzt untersuchten 137 Knochenfragmente, demnächst publiziert im Journal of Archaelogical Science, wurden bereits in den 1960er-Jahren bei Grabungen in dem verlassenen Ort gefunden. Sie lagen nicht als vollständige Skelette auf dem neben der Kirche gelegenen Friedhof, sondern durcheinander in einer Grube zwischen den Wohnhäusern. Das war die erste Merkwürdigkeit. Zwar durften etwa Selbstmörder und Schwerverbrecher im Spätmittelalter nicht auf Friedhöfen beerdigt werden, doch nach Aussage der Wissenschaftler um den Knochenspezialisten Simon Mays von der Denkmalschutzorganisation Historic England gibt es tatsächlich nur sehr wenige Beispiele von Bestattungen außerhalb der offiziellen Begräbnisstätten, und nie sind sie aus dem Knochenverbund genommen wie in Wharram Percy.

Denkbar wäre, dass es sich um Zuwanderer von außerhalb der Gemeinschaft handelte, die deshalb anders bestattet wurden als der Rest. Doch eine Laboranalyse der Strontium-Isotopen im Zahnschmelz zeigte, dass sie ununterscheidbar waren von den auf dem mittelalterlichen Friedhof des Dorfes bestatteten Menschen.

Archäologie: Messerklingen hinterließen die Spuren in einer Rippe.

Messerklingen hinterließen die Spuren in einer Rippe.

(Foto: Historic England)

In der Grube waren die Knochen mit Keramikscherben verschiedener Epochen vermischt, auch römische waren darunter. Die Radiokarbon-Datierung der Knochen zeigt aber eindeutig, dass sie aus der Zeit vom 11. bis 13. Jahrhundert stammen. Es handelt sich um sechs Erwachsene, eine möglicherweise weibliche Person um die 20, einen Jugendlichen und zwei Kinder zwischen zwei und vier Jahren. Sie starben offenbar verteilt über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren. Da Spuren von Abnagung durch Tiere fehlen, nehmen die Wissenschaftler an, dass die Körper nicht frei herumlagen, sondern ursprünglich anderswo begraben waren. Das war die zweite Merkwürdigkeit.

Die Schnittspuren waren die dritte Auffälligkeit. Sie waren auf den Oberkörper beschränkt und konzentrierten sich besonders im Bereich des Halses und Kopfes. Einer der Schädel und mehrere der Unterkiefer zeigten Messerspuren, die darauf hindeuten, dass der Kopf nach dem Tod von der Wirbelsäule abgetrennt wurde. Wann und wie auch immer die Knochen in die Grube gelangten - die Verstümmelung fand wohl nicht an allen gleichzeitig statt.

Warum wurden Menschen mit Steinen im Mund bestattet?

Dass es sich um Kampfwunden handelt, lässt sich ebenso ausschließen wie dass sie durch Grabungswerkzeug verursacht wurden. Das bestätigt auch Jo Appleby, die an der Universität von Leicester Dozentin für Archäologie ist und das knochenkundliche Labor leitet. Es handle sich ganz klar um Schnittspuren, die spätestens einige Monate oder Jahre nach dem Tod entstanden sein können - und damit um etwas sehr Ungewöhnliches: "Es gibt Gegenden und Zeitabschnitte, in denen es zum normalen Begräbnisritus gehört, das Fleisch von den Knochen zu entfernen und den Körper zu zerteilen", sagt sie. "Dort treten Schnittspuren häufig auf. Aber in normalen archäologischen Befunden aus dem Mittelalter in Britannien sind sie sehr selten."

Und noch eine Merkwürdigkeit: 17 der Knochen zeigten Spuren von Feuer, das allerdings nur kurz auf sie einwirkte, und zwar, als sie noch von Fleisch und Haut überzogen waren.

Die Forscher erwogen zunächst Kannibalismus als Erklärung für die Merkwürdigkeiten. Allein zwischen 1066 und 1300 listen die Chroniken zwölf größere Hungersnöte auf. Nicht auszuschließen, dass es in solchen Phasen zum Äußersten kam. Zwar ähnelt die Art, wie einige der Langknochen aufgebrochen waren, der Technik, mit der bei Tierknochen das Mark herausgeholt wird, und einige gruppierte Schnittspuren an den Rippen könnten auf eine "Filetierung" hindeuten. Die Brandspuren könnten von der Zubereitung des Fleisches herrühren. Doch wenn hier wirklich Hungerleidende ihre Mitmenschen verspeist hätten - warum konzentrieren sich dann die Schnittspuren am Hals und Kopf, den am wenigstens fleischreichen Körperteilen?

Am besten lassen sich die Merkwürdigkeiten so erklären

Hinzu kommt: Appleby weiß von keinen knochenkundlichen Hinweisen auf Kannibalismus aus Britannien oder Europa. Ohnehin könnten Schnittspuren nur beweisen, dass die Knochen in einer Weise bearbeitet wurden, die Kannibalismus wahrscheinlich macht. Dass Menschen tatsächlich von anderen Menschen gegessen wurden, lässt sich Appleby zufolge nur dann sicher beweisen, wenn sich im Kot menschliches Myoglobin, ein Eiweiß, findet, wie es an einem prähistorischen Fundort in Colorado der Fall sei.

Am besten lassen sich die Merkwürdigkeiten nach Angaben von Mays und seinen Kollegen damit erklären, dass hier Tote gehindert werden sollten, aus dem Grab zu steigen. Der Glaube an Wiedergänger sei im Mittelalter in Nord- und Westeuropa sehr verbreitet gewesen. In England stammten die ersten schriftlichen Überlieferungen dazu aus dem 11. Jahrhundert. Der am häufigsten praktizierte Weg, sie loszuwerden, sei, den Körper wieder auszugraben und ihn zu verstümmeln, etwa ihn zu köpfen und zu verbrennen. Das passt genau zu den Schnitt- und Brandspuren und der Deponierung außerhalb des üblichen Begräbnisortes.

Auch Appleby hält den Glauben an Wiedergänger für die plausibelste Erklärung. Was danach mit den Leichen passierte, ist nirgendwo beschrieben. Die Deponierung der als bedrohlich empfundenen Knochen in einem häuslichen Kontext wie in Wharram Percy scheint allerdings unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass hier auch Frauen und Kinder dabei sind - in den Schriftquellen sind Wiedergänger ausschließlich männlich. Die Autoren der Studie weisen aber darauf hin, dass die oft von Kirchenmännern geschriebenen Texte wohl nicht das vollständige Repertoire an Volksmärchen abbildeten.

Tatsächlich gibt es weitere Fundorte, an denen sich merkwürdige Begräbnisse mit Überlieferungen über Untote zu decken scheinen: In Drawsko in Polen wurden im 17. und 18. Jahrhundert mehrere Tote mit Steinen oder Sicheln auf dem Hals bestattet. In einem Fall war ein Ziegel in den Mund gerammt. Auch zwei Individuen aus dem 8. Jahrhundert in Kilteasheen in Irland wurden mit Steinen im Mund gefunden.

Und erst im Januar veröffentlichte Simon Mays, der auch die Knochen aus Wharram Percy untersucht hat, einen Befund aus römischer Zeit aus dem heutigen Northamptonshire: Das mit dem Gesicht nach unten liegende Skelett eines Mannes, dem offenbar die Zunge herausgeschnitten und der mit einem Stein im Mund bestattet worden war - auch das könnte darauf hinweisen, dass er als bedrohlich empfunden wurde. Eins kann aber auch die sorgfältigste archäologische Untersuchung nicht herausfinden: ob die Anti-Zombie-Maßnahmen Erfolg hatten.

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