Aquakultur:Muschelzucht zwischen Mülltüten

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Umweltprobleme wie an Land: Ein Fischfarmer kontrolliert seine Netze im Mittelmeer nahe der französischen Stadt Marseille.

(Foto: Boris Horvat/AFP)

Die Aquakultur ist das am schnellsten wachsende Segment der Lebensmittelwirtschaft. Die vielen Zuchtbetriebe leiden unter der Umweltverschmutzung - und tragen zugleich dazu bei.

Von Christopher Schrader

Irgendjemand muss es damals für eine gute Idee gehalten haben, Deiche mit Müll zu füllen. "Eine Lösung für zwei Probleme, haben die Planer sich wohl gedacht", vermutet Kate Spencer von der Queen Mary University in London, "Abfallbeseitigung und Hochwasserschutz." Spencer untersucht derzeit die schädlichen Folgen dieses Tuns: Sperrwerke entlang der Themse-Mündung, in den 1950er- bis 1980er-Jahren gebaut, geben ihren Inhalt frei. In der Nähe von East Tilbury in Essex hängen Kunststoff und verrottete Textilien aus dem Damm. 25 Kilometer stromabwärts, bei Hadleigh, finden sich Schwermetalle und Chemikalien im Deich.

Die Altlasten in den Schutzbauten werden nicht nur für die Umwelt, sondern auch für die Fischer in der Region zum Problem. Gut 1200 historische Müllkippen am Meer hat Spencers Team allein an der Küste Englands gefunden. In ihrer Nähe liegen viele geschützte Natur- und Feuchtgebiete - und 137 Fangareale für Schalentiere, die freigesetzte Schadstoffe schnell aufnehmen. Viele dieser Meeresfrüchte verbringen ihr Leben nicht in der freien Natur, sondern werden in Netzen und Käfigen oder auf Muschelbänken gehalten. Spencers Studie wirft ein Schlaglicht auf nur ein Problem dieser Produktionsmethode.

Aquakultur, wie die Sparte der Fischerei genannt wird, ist das am schnellsten wachsende Segment der Lebensmittelwirtschaft. In Teichen an Land oder Buchten im Meer ziehen die Betreiber Fische, Garnelen oder Muscheln. Nach Zahlen der Welternährungsorganisation FAO lieferten die Anlagen 2014 fast 74 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte sowie 27 Millionen Tonnen Pflanzenmaterial. Die Produktion hat sich in zehn Jahren fast verdoppelt. Chinesische Betriebe dominieren 60 Prozent des Markts.

Noch landet die Fischereiflotte jährlich knapp 20 Millionen Tonnen mehr Wassergetier an, als per Aquakultur erzeugt wird. Doch nur noch Meeresfisch stammt vor allem aus Wildfang; Schalentiere, Süßwasser- und Wanderfische wie der Lachs kommen bereits überwiegend von Farmen. Forscher erwarten, dass Aquakultur in einigen Jahren den Markt beherrschen wird: "Sonst lässt sich der Eiweißbedarf der wachsenden Weltbevölkerung nicht mehr decken, die Erträge der Fischerei stagnieren schließlich seit vielen Jahren", sagt Andreas Kunzmann vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie in Bremen. Doch vorher müssten noch einige Probleme gelöst werden.

Chemische Rückstände, Pestizide oder Flammschutzmittel werden einfach im Meer entsorgt

Die Branche ist zugleich Verursacher und Opfer von Umweltverschmutzungen. Einerseits gelangen überall auf der Welt Umweltgifte ins Wasser und von dort in die gezüchteten Meeresfrüchte. Die Müllkippen am Meer, die die englische Forscherin Spencer kürzlich auf einer Tagung über Mündungs- und Küstengewässer in Bremen vorstellte, sind nur ein Beispiel.

Oft ist das Meer zudem selbst Müllkippe. Das zeigt sich in vielen Weltgegenden, zum Beispiel im Golf von Bohai vor der Küste Nordchinas. 40 Flüsse münden hier und tragen chemische Rückstände ins Meer, sagt Jianhui Tang von der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Darunter sind Pestizide, sogar das krebserregende Lindan, das eigentlich seit fast zehn Jahren nicht mehr eingesetzt werden darf. Dazu kommen Flammschutzmittel, Reste der Pharma- und Kosmetikproduktion und Abwässer der Petrochemie.

An der kroatischen Adria wiederum hat ein Team um Goran Kniewald vom Ruđer-Boškovic-Institut in Zagreb Tributylzinn-Verbindungen (TBT) im Wasser nachgewiesen. Die Chemikalien stammen aus Farben, die verhindern sollen, dass Algen, Muscheln und andere Lebewesen Boots- und Schiffsrümpfe bewachsen; der Einsatz solcher "Anti-Fouling-Anstriche" bei Sportbooten ist in der EU seit 2008 verboten. Die Behörden seines Landes aber schauten weg, so Kniewald, darum lägen auch viele italienische Yachten dort. TBT schadet Muscheln und führt zu Mutationen, über die Nahrungskette gelangt es in den Körper des Menschen.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen verändern die Farmen für Seetiere ihre Umwelt massiv. Fische oder Garnelen werden gefüttert und konzentriert gehalten, darum gelangen mit Ausscheidungen und ungenutztem Futter große Mengen Nährstoffe und Arzneimittel ins Wasser. Dieser Eintrag stört das Ökosystem. Zum Beispiel besiedeln plötzlich Seeigel den sonst kahlen Boden norwegischer Fjorde unter den Lachsgehegen, berichtete in Bremen Camille White von der Universität im australischen Melbourne. In China hingegen sterben Seegrasbänke durch die massive Düngung ab. In Tasmanien fürchten die Betreiber von Fischfarmen in der Meeresbucht Macquarie Harbour die Vermehrung von winzigen Vielborsterwürmern, die ein Umkippen des Lebensraums ankündigt.

Manche dieser Probleme wollen Forscher angehen, indem sie die Monokulturen der Farmen auflösen. "Die Idee ist, statt einer Art mehrere gleichzeitig zu halten, sodass zum Beispiel Algen, Muscheln oder Seegurken das überschüssige Futter und die Ausscheidungen der Fische nutzen", sagt Andreas Kunzmann. Diese Wirtschaft auf mehreren Ebenen - die integrierte, multitrophische Aquakultur (IMTA) - könnte nicht nur die Wasserqualität verbessern, sondern den Betreibern ein Zusatzeinkommen bescheren. Kunzmanns Institut organisiert bereits Integrationsversuche mit zwei Arten, etwa Seegurken und Makroalgen. Vier Arten zu halten, wollen die Forscher bald in Kolumbien erproben.

Vor der Küste der Millionenstadt Qingdao schwamm ein dicker, grüner Algenteppich

Manchmal allerdings schafft die Aquakultur schon deswegen Probleme, weil sie groß ist. Das gilt zum Beispiel für den Anbau der Purpurtange an der Küste der chinesischen Provinz Jiangsu. Die Rotalge, die etwa zu Sushirollen verarbeitet wird, wächst auf Netzen im Watt. Ihre Anbaufläche wurde zwischen 2003 und 2008 mehr als verdoppelt. Doch in den Anlagen gedeihen neben den Rot- auch unerwünschte Grünalgen - Meeresunkraut. "Etwa 5000 Tonnen davon werden bei der Ernte im April und Mai von den Netzen gerissen und ins Gelbe Meer gespült", sagt Dongyan Liu von der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Dort vermehren sich die Algen bis Ende Juni auf eine Million Tonnen, dafür sorge die übermäßige Nährstofffracht im Ozean. Besonders spektakulär war es 2008 vor der Millionenstadt Qingdao: Überall entlang der Strände, der Hafenpromenade und auf dem Wasser lag ein dicker grüner Teppich. "Mehr als 10 000 Menschen mussten die Algen wegräumen", erinnert sich Liu. Die Zeit drängte: In der Hafenstadt standen im August 2008 die olympischen Segelwettbewerbe an.

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