Anthropologie:Die Uralteingesessenen

Archäologen haben in einer Höhle im Südharz 3000 Jahre alte Gebeine entdeckt - nun wird nach lebenden Verwandten gefahndet.

Tina Baier

Wäre nicht die eisige Kälte, man könnte den kleinen Raum im Göttinger Institut für Anthropologie für eine Art Rumpelkammer halten. Die Regale an den Wänden sind vollgestellt mit Umzugskartons.

Anthropologie: Im Berndsaal der Lichtensteinhöhle lagen hunderte Menschenknochen. Vermutlich wurden inmitten der Skelette religiöse Rituale zelebriert.

Im Berndsaal der Lichtensteinhöhle lagen hunderte Menschenknochen. Vermutlich wurden inmitten der Skelette religiöse Rituale zelebriert.

(Foto: Foto: S. Flindt)

Was nicht mehr darauf gepasst hat, stapelt sich auf dem Boden. Es sieht aus, als wären hier Sachen gelagert, die eigentlich niemand mehr braucht.

Allerdings ist die Beschriftung der Kartons ziemlich ungewöhnlich: ,,Schädelkiste'' steht auf einem großen Karton gleich rechts neben dem Eingang.

Den kleineren daneben hat jemand mit ,,Unterkiefer'' beschriftet.

Susanne Hummel holt eine Kiste aus dem Raum und macht die Tür schnell wieder hinter sich zu. Drinnen darf es nicht zu warm werden.

Sobald die Temperatur über minus 14 Grad steigt, wird in der Zentrale der Universität Göttingen Alarm ausgelöst. Denn was in der unscheinbaren Kammer bei minus 20 Grad aufbewahrt wird, ist für Wissenschaftler von unschätzbarem Wert.

Es sind die Gebeine von 40 Menschen, die vor etwa 3000 Jahren, gegen Ende der Bronzezeit, im heutigen Südharz gelebt haben. Archäologen haben sie in einer schwer zugänglichen, engen Höhle im Nordwesthang des Lichtensteins, eines Berges nahe der Ortschaft Osterode, entdeckt und in mühsamer Kleinarbeit geborgen.

Der Ahn aus der Höhle

Die Göttinger Anthropologin Susanne Hummel will nun mit zwei Mitarbeiterinnen untersuchen, ob noch heute nach tausenden Jahren Nachfahren der bronzezeitlichen Höhlenmenschen im Südharz leben. Gelingt das Projekt, könnte man eine Verwandtschaft über etwa 120 Generationen nachweisen - es wäre der wohl am weitesten zurückreichende Familienstammbaum der Welt.

Anhand von Erbgut (DNS) aus den 3000 Jahre alten Knochen hat die Anthropologin bereits herausgefunden, dass es sich bei den meisten Toten aus der Lichtensteinhöhle um Mitglieder ein und derselben Familie handelt. Dass in den Gebeinen und vor allem in den Zahnwurzeln nach so langer Zeit überhaupt noch DNS zu finden war, ist ungewöhnlich. Die Erbsubstanz war nur deshalb so gut konserviert, weil in der Lichtensteinhöhle seit Jahrtausenden eine konstante Kühlschranktemperatur herrscht, die im Sommer nicht über acht Grad steigt und im Winter nicht unter sechs Grad fällt.

Zudem waren viele der Knochen mit einer dicken Kalkschicht überzogen. Sie ist entstanden, weil das kalkhaltige Wasser der Höhle immer wieder auf die Gebeine tropfte. Das Wasser ist verdunstet, der Kalk blieb zurück. ,,Im Prinzip der gleiche Effekt, wie wenn eine Spülmaschine verkalkt'', sagt Hummel. Kalk hat einen leicht basischen pH-Wert zwischen sieben und acht. Und das ist zufällig genau der Bereich, indem DNS stabil ist und nicht in ihre Einzelbestandteile zersetzt wird.

,,Die Qualität des etwa 3000 Jahre alten Erbguts ist nicht schlechter als die von Blut-, Sperma- oder Speichelproben, die Kriminalbeamte an einem drei Tage alten Tatort entdecken'', sagt Hummel.

"Wir hätten nie gedacht, dass so viele Leute kommen würden"

Das Erbgut der Toten aus der Lichtensteinhöhle will die Wissenschaftlerin nun mit DNS-Proben alteingesessener Einwohner aus der Umgebung der Höhle vergleichen, um eventuelle Verwandtschaftsbeziehungen festzustellen. 230 Männer, Frauen und Kinder aus Osterode sind vor zwei Wochen in die Grundschule im Ortsteil Förste gekommen, um dort einen Abstrich ihrer Mundschleimhaut mit einem sterilen Wattestäbchen machen zu lassen.

Dabei bleiben genügend Zellen hängen, um daraus DNS zu isolieren. ,,Wir hätten nie gedacht, dass so viele Leute kommen würden'', sagt Mireille Otto, die an dem Projekt beteiligt ist. Immer noch trudeln Proben ein von Menschen, die inzwischen aus der Gegend weggezogen sind und die ihre Probe deshalb mit der Post schicken. Viele der Versuchsteilnehmer haben selbst schon Ahnenforschung betrieben. Einer kann seinen Familienstammbaum über 500 Jahre zurückverfolgen und will jetzt wissen, ob seine regionalen Wurzeln nicht sogar noch viele weiter bis in die Bronzezeit zurück reichen.

Um das festzustellen, werden die Göttinger Wissenschaftlerinnen Bereiche auf dem Erbgut der Probanden untersuchen, mit deren Hilfe sie auch schon die Verwandtschaftsbeziehungen der Toten aus der Lichtensteinhöhle bestimmt haben. Für die mütterliche Verwandtschaftslinie eines Probanden oder einer Probandin möglicherweise bis hin zu einer Frau aus der Lichtensteinhöhle, wird ein Stück DNS aus den Mitochondrien analysiert.

Diese versorgen alle Körperzellen mit Energie. Anders als das Erbgut im Zellkern, das etwa zur Hälfte von der Mutter und vom Vater kommt, stammt die DNS in den Mitochondrien bei jedem Menschen ausschließlich von der Mutter. Um die Verwandtschaftsbeziehungen zu klären, wird der genaue Aufbau eines kurzen DNS-Stücks untersucht, der bei Menschen, die nicht miteinander verwandt sind, sehr unterschiedlich ist. Eine Verwandtschaft liegt vor, wenn dieser Bereich bei zwei Personen identisch ist.

Gesucht: die Nachfahren von "M3"

Über die männliche Verwandtschaftslinie lässt sich beispielsweise herausfinden, ob ein in der Lichtensteinhöhle begrabener Mann der Vorfahr eines heute lebenden Jungen ist. Dazu werden bestimmte Bereiche auf dem Y-Chromosom, dem männlichen Geschlechtschromosom, untersucht. Sie werden als Short tandem repeats (Strs) bezeichnet, weil sich in ihnen eine bestimmte Abfolge von DNS-Bausteinen öfter wiederholt. Charakteristisch für die Männer einer Familie ist, wie viele Wiederholungen vorliegen.

Die Methode funktioniert ähnlich wie ein Vaterschaftstest, mit dem Unterschied, dass zwischen den Testpersonen nicht eine Generation liegt sondern etwa 120. Erste Ergebnisse dieser Untersuchungen werden in etwa acht Wochen vorliegen.

Dann könnte sich beispielsweise zeigen, ob sich unter den Testpersonen ein Nachfahr jenes Mannes aus der Lichtensteinhöhle befindet, den die Göttinger Anthropologen ,,M3'' nennen. M3 lag zusammen mit drei Töchtern, die er mit zwei verschiedenen Frauen hatte, zwei Enkelsöhnen und den Müttern seiner Kinder begraben.

Die Uralteingesessenen

Jetzt ruht sein Schädel in der Schädelkiste im Göttinger Institut für Anthropologie und fühlt sich leicht und eiskalt an. Irgendjemand aus der Arbeitsgruppe von Stefan Flindt, dem Archäologen des Landkreises Osterode, der die Ausgrabungen in der Lichtensteinhöhle geleitet hat, hat ihn sorgfältig eingepackt, in eine Plastiktüte gesteckt und in die Kühlkammer gebracht. Gefunden wurde er vielleicht im so genannten Berndsaal der Höhle, in dem es zwar nicht ganz so kalt ist, wie in der Kühlkammer, aber mindestens genauso eng.

Um hineinzukommen, windet man sich seitlich durch eine Spalte und kann sich dann auf einen Felsen setzen, auf dem die Nutzer der Höhle vor 3000 Jahren möglicherweise religiöse Zeremonien abgehalten haben. Darauf deuten unter anderem schwarze Stellen an der Decke hin, die von einer Feuerstelle herrühren könnten. Die Bronzezeit-Menschen müssen dabei mitten zwischen Skeletten und verwesenden Leichnamen gesessen haben, denn genau an dieser Stelle haben Flindt und seine Kollegen einen Wust von Menschenknochen gefunden, die sich in mehreren Lagen übereinanderstapelten.

Angesicht dieser gruseligen Funde war man zunächst davon ausgegangen, dass in der Lichtensteinhöhle Menschen geopfert wurden. ,,Auffällig war allerdings, dass kaum eines der Skelette Spuren von Verletzungen aufwies'', sagt Stefan Flindt. Mit Ausnahme eines Toten, der sich das Schlüsselbein gebrochen hatte und eines acht bis zehnjährigen Kindes, das ein drei Zentimeter großes, rundes Loch im Kopf hatte.

Die Hypothese von der Opferstätte beginnt zu wackeln

Die Form der Öffnung und Schabspuren am Knochen lassen vermuten, dass der Schädel bei einem medizinischen Eingriff geöffnet wurde. ,,Das Kind ist aber nicht an den Folgen dieser Operation gestorben'', sagt Hummel. An der dichten Struktur des Knochens rund um das Loch sei erkennbar, dass die Wunde gut verheilt sei und sich auch nicht entzündet habe.

Als die Erbgutanalysen dann auch noch ergaben, dass die meisten Menschen aus der Lichtensteinhöhle miteinander verwandt waren, begann die Hypothese von der Opferstätte zu wackeln. Die Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass es sich bei der Lichtensteinhöhle um die Begräbnisstätte eines Familienclans handelt. Das ist insofern ungewöhnlich, weil die Toten in der späten Bronzezeit typischerweise verbrannt und die Asche dann in Tongefäßen in den für diese Zeit charakteristischen Urnenfeldern beigesetzt wurden.

Neben den Verwandtschaftsverhältnissen hat Susanne Hummel das Erbgut auch noch auf andere Merkmale hin untersucht. Dabei fand sie unter anderem heraus, dass vier der 40 Toten aus der Bronzezeit bereits eine Mutation auf Chromosom 3 aufweisen, die heute etwa 15 Prozent der Europäer haben.

Die Veränderung im so genannten CCR5-Gen macht widerstandsfähig gegen den Ausbruch von Aids. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass dieser Schutz sehr viel später entstanden ist, als Folge der Pest, die im 14. Jahrhundert in Europa wütete.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: