Amok-Drohungen:"Wir müssen mehr auf auffällige Jugendliche achten"

Nach einer Amok-Drohung schützen Polizisten Schulen in Baden-Württemberg. Doch muss es überhaupt soweit kommen? Ein Interview mit dem Schulpsychologen Lothar Dunkel.

Markus C. Schulte von Drach

Lothar Dunkel, Leiter der schulpsychologischen Beratungsstelle der Stadt Münster, gehört zu den Betreuern, die sich nach dem Amoklauf von Emsdetten um die Schüler und Lehrer der Geschwister-Scholl-Schule gekümmert haben.

Polizei vor einer Schule in Freiburg

Polizei vor einer Schule in Freiburg.

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Nach der Ankündigung eines Amoklaufs sind in Baden-Württemberg 3700 Streifenpolizisten unterwegs, um Schulen zu schützen. Ist das die angemessenen Reaktion?

Dunkel: Nach solchen Drohungen gibt es keine andere Wahl, als dass die Polizisten die Schulen schützen. Aber das wird irgendwann abebben, wenn die Hysterie nach Emsdetten abgeklungen ist. Auf Dauer reicht das natürlich nicht.

Wir müssen Jugendliche, die solche Drohungen aussprechen oder Amok laufen könnten, bereits im Vorfeld erkennen. Und Pädagogen oder Psychologen, Sozialarbeiter und Jugendhilfe in der Schule müssten sie so lenken und leiten, dass sie nicht zu diesen Maßnahmen greifen.

sueddeutsche.de: Der Amoklauf von Erfurt ist schon einige Jahre her und auch damals wurde gefordert, es müsse etwas geschehen. Ist etwas geschehen?

Dunkel: Ganz sicher hat sich seit Erfurt etwas verändert. Immerhin haben jetzt zwei Schüler die Polizei gewarnt, nachdem sie in einem Internet-Forum die Ankündigung eines Amoklaufs für den sechsten Dezember mitbekommen hatten.

sueddeutsche.de: Solche Drohungen werden inzwischen also ernster genommen, weil die Sensibilität gegenüber potenziellen Amokläufern gewachsen ist?

Dunkel: Ja. Und es wird immer so sein, dass gerade Schüler näher an ihren Mitschülern oder Altersgenossen sind, als irgendein Lehrer oder Schulpsychologe. Auf so etwas müssen wir uns auch in Zukunft verlassen.

Wir müssen die Jugendlichen aber noch weiter sensibilisieren. Sie und wir alle miteinander als Gesellschaft müssen eine Kultur des sich umeinander Kümmerns entwickeln. Wenn Schüler merken: Da ist einer in unserer Klasse, in unserer Gruppe, der driftet ab, der fängt an, Blödsinn zu machen - dann müssen sie sich an die Erwachsenenwelt wenden können, zum Beispiel an die Lehrer, Eltern, Schulpsychologen oder Sozialarbeiter.

sueddeutsche.de: Jeder ist also in der Verantwortung. Eine besondere Verantwortung liegt aber doch auf Seiten der Behörden. Haben die Bundesregierung, die Landesregierungen, die Städte und Kommunen seit Erfurt genug getan?

Dunkel: Gerade jetzt auf diese Frage zu antworten, ist schwierig. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, wir Schulpsychologen wollten Amokläufe als Gelegenheit nutzen, Forderungen zu stellen. Aber wir drängen schon seit Jahren auf mehr Stellen für Schulpsychologen. Die Situation ist katastrophal. Und das wissen auch alle. Das gleiche gilt auch für Schulsozialpädagogen und für die Ausbildung von Lehrern.

sueddeutsche.de: Offenbar ist es aber so, dass die Probleme erst durch Amokläufe wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politiker dringen.

Dunkel: Wir wollen aber nicht, dass jetzt als Reaktion auf Emsdetten und die aktuellen Drohungen ganz schnell neue Stellen für Schulpsychologen geschaffen werden, und dann läuft es wie nach Erfurt: In Thüringen wurden damals auch neue Stellen geschaffen - und nach einem Jahr wieder gestrichen. Wir wollen Amokläufe nicht als Aufhänger benutzen, um auf die Notwendigkeit einer besseren Betreuung der Schüler hinzuweisen.

Kürzlich hat zum Beispiel das Institut der Deutschen Wirtschaft festgestellt, dass es für unser Schulsystem schon unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten besser wäre und man Geld sparen könnte, wenn man sofort 2000 Schulpsychologen einstellen würde. Das wäre eine Verdreifachung der Stellen. Aber mit solchen Forderungen werden wir von den Politikern gar nicht ernst genommen.

In Deutschland kommt im Schnitt etwa ein Schulpsychologe auf 15.000 Schüler. Die Weltgesundheitsorganisation fordert: Ein Schulpsychologe auf 1000 Schüler.

sueddeutsche.de: Sie haben gesagt, jeder müsste darauf achten, ob ein Kind oder ein Jugendlicher auffällig wird. Aber worauf genau muss man achten?

Dunkel: Ganz allgemein auf Merkmale, die Besorgnis erregen. Das fängt an mit Problemen in der Schule. Auch wenn Schüler in Waffen vernarrt sind, sollte man genauer hinschauen. Oder wenn Jugendliche sich zurückziehen, isolieren. Denken Sie daran, was der Amokläufer von Emsdetten im Wald gespielt hat - zum Beispiel Hinrichtungen. Da müssten Freunde oder Bekannte, die das mitbekommen, schon sagen: Das geht zu weit. Man darf da ruhig auch auf sein Bauchgefühl hören.

sueddeutsche.de: In den USA haben Secret Service und FBI Verhaltensweisen aufgelistet, die bei Schul-Attentätern beobachtet wurden: Eine Beschäftigung mit Gewalt und Tod über das übliche Maß hinaus, negative Vorbilder wie Hitler oder der Satan, Versagen in der Schule, Hinweise auf einen Rückzug aus dem sozialen Umfeld, Symptome, die auf Depressionen hinweisen und so weiter.

Dunkel: Wenn eine Reihe verschiedener solcher Auffälligkeiten beobachtet wird, dann sollte man tatsächlich genauer hinsehen und schnell handeln. Aber es gibt ein großes Problem. Selbst wenn Kindern oder Jugendlichen ein Schulkamerad auffällt, brauchen sie Ansprechpartner unter den Erwachsenen, denen sie vertrauen. Und die scheinen zu fehlen.

sueddeutsche.de: Kann man die Aufmerksamkeit, die hierzu notwendig ist, von jungen Schülern schon erwarten?

Dunkel: Es ist auch Aufgabe der Schulen, die Persönlichkeit der Kinder so mitzuentwickeln, so dass sie dazu in der Lage sind. Und dass sie Mitschüler nicht ausschließen oder ihnen mit Hohn und Spott begegnen. Das hat etwas mit sozialem Lernen zu tun.

sueddeutsche.de: Sind unsere Lehrer darauf vorbereitet?

Dunkel: Nicht genug. Lehrer sollten sich noch mehr als Pädagogen verstehen.

sueddeutsche.de: Hängt das nicht auch mit der Ausbildung der Lehrer zusammen?

Dunkel: Ja. Das Studium konzentriert sich zu sehr auf den Lehrstoff und zu wenig auf den Umgang mit Schülern. Jeder, der Lehrer werden will, sollte sich die Frage stellen: Liebe ich Kinder und möchte ich ihnen etwas beibringen? Nur wenn die Antwort aus vollem Herzen Ja heißt, sollte man Lehrer werden.

Das ist wichtig, weil Schüler die Lehrer nicht nur als Autoritäts- sondern auch als sensible Vertrauenspersonen erleben sollten. Nur dann wenden sich Schüler an sie, wenn ihnen Mitschüler aufgefallen sind.

sueddeutsche.de: Zum Thema Killerspiele: Ich denke, wir hätten es als Gymnasiasten vermutlich nur ziemlich cool gefunden, wenn wir in einer Counterstrike-Map auf einige unsere Lehrer hätten ballern können.

Dunkel: Solche Spiele haben dann eine destruktive Wirkung, wenn sich Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, die bereits andere Probleme haben, sich dort hineinsteigern und dann den Kontakt zur Realität verlieren.

sueddeutsche.de: Was halten Sie dann davon, wenn Politiker nach einem Amoklauf wie in Emsdetten ein Verbot von Killerspielen fordern?

Dunkel: Das spiegelt nur die Hilflosigkeit der Politik wieder, und ihre Unfähigkeit, die Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um Schülern in Schwierigkeiten wirklich zu helfen.

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