Altersforschung:Wie lange lebe ich noch?

Älterer Mann weißt Wand

Viele Menschen haben noch mehr Jahre vor sich als sie glauben.

(Foto: Jan Woitas/dpa)

Viele Senioren schätzen ihre Lebenserwartung vollkommen falsch ein. Nahezu ein Drittel hat noch mehr Jahre vor sich als gedacht. Für die Medizin ist das ein Problem.

Von Werner Bartens

Es ist das Lebensmotto der Junggebliebenen und Aktiven: Man ist so alt wie man sich fühlt. Dies behaupten allerdings zumeist nur diejenigen, die trotz einer beachtlichen Anzahl von Jahren Erstaunliches leisten können - oder es sich zumindest zutrauen. Dass mit Zuversicht und Selbstvertrauen auch im Alter noch Vieles gelingen kann, ist unbestritten. Schwieriger wird es hingegen, die Zeit abzuschätzen, die einem noch bleibt. Das subjektive Gefühl der eigenen Vitalität und Spannkraft trügt offenbar, denn wenn es um die Prognose der eigenen Lebenserwartung geht, liegen Senioren ziemlich häufig ziemlich daneben.

Im Fachmagazin JAMA Internal Medicine (online) vom heutigen Dienstag zeigen Geriater der University of California in San Francisco, wie sehr sich ältere Menschen verschätzen. Die Altersmediziner um Rafael Romo haben mehr als 2000 Freiwillige im Alter von 64, 69, 74, 79, 84 und 89 Jahren gefragt, wie lange sie noch leben und Fünfjahresschritte zur Auswahl angegeben. Die Selbsteinschätzung wurde dann nicht nur mit dem tatsächlich erreichten Alter verglichen, sondern auch mit einem Rechenmodell, das die Lebensumstände, Krankheiten und andere Einschränkungen berücksichtigt und als sehr zuverlässig gilt.

Nahezu ein Drittel der Befragten hat mehr Lebensjahre vor sich als gedacht

Nur etwas mehr als 54 Prozent der Teilnehmer schätzten ihre Lebenserwartung halbwegs realistisch ein, wobei sogar Abweichungen um bis zu 25 Prozent nach oben oder unten noch als stimmig galten. Nahezu 33 Prozent unterschätzten jedoch die Zeit, die ihnen noch blieb. 11,5 Prozent rechneten damit, dass sie weitaus länger leben würden. "Wir hatten eigentlich erwartet, dass ältere Menschen ein gutes Gespür dafür haben würden, wie lange sie noch leben und dass sie besser in solchen Schätzungen abschneiden als jedes Rechenmodell - aber da lagen wir falsch", sagt Romo. "Tatsächlich lagen die älteren Menschen oft daneben und konnten ihre Lebenserwartung nicht gut einschätzen. Und je älter sie waren, desto schlechter fiel ihre Vorhersage aus."

Während bei den 64- und 69-Jährigen die Schätzungen ungefähr hinkamen und etwa zwei Drittel der Teilnehmer richtig lagen, nahm die Genauigkeit der Prognose mit zunehmendem Alter ab und lag jenseits der 80 bei weniger als der Hälfte richtiger Antworten. Würfeln wäre ähnlich aussagekräftig gewesen. Die Wissenschaftler wurden aber auch von der Tendenz der Vorhersagen überrascht. "Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Menschen eher unterschätzten, wie lange sie noch zu leben haben", sagt Romo. "Eigentlich würde man vermuten, dass ältere Leute eher überschätzen, wie viel Zeit ihnen noch bleibt." Das näher rückende Lebensende könne schließlich dazu verleiten, aus Wunschdenken noch etliche Jahre zu erwarten.

Für die Medizin hat die verbreitete Fehleinschätzung konkrete Auswirkungen. Wer seine restliche Lebenserwartung deutlich unterschätzt, wird womöglich einer Therapie oder weiteren Untersuchungen im Krankheitsfall nicht so schnell zustimmen und damit hilfreiche Unterstützung nicht erhalten. Umgekehrt ist es für Patienten äußerst belastend, wenn sie noch einer invasiven und anstrengenden Therapie ausgesetzt werden, obwohl alle Anzeichen darauf hindeuten, dass sie davon nicht profitieren werden, weil sie nicht mehr lange zu leben haben. "Wir müssen lernen zu verstehen, wie es die Behandlungsentscheidung beeinflusst, wenn ältere Menschen ihre Lebenserwartung unter- oder überschätzen", sagt Romo. "Schädlich kann beides sein - wenn nützliche Therapien ausbleiben und wenn Menschen behandelt werden, die überhaupt nichts mehr davon haben."

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