Atomkatastrophe in Japan:Ratlose Retter

Explosionen, Brände, Rauchwolken - und nun stoppt auch noch Wasser die Rettungsarbeiten, von dem niemand weiß, wieso es so extrem radioaktiv ist. Offenbar hat selbst AKW-Betreiber Tepco kaum eine Ahnung, was in der Anlage Fukushima-1 passiert.

Nach der massiven Verstrahlung von drei Arbeitern im AKW Fukushima-1 wird befürchtet, dass der Reaktordruckbehälter im Reaktorblock 3 beschädigt ist. Bislang war vermutet - oder gehofft - worden, dass der Behälter noch intakt ist, in dem die Brennstäbe teilweise oder ganz freiliegen, da die Kühlsysteme ausgefallen sind.

Die Arbeiter waren im benachbarten Turbinengebäude in Kontakt mit Wasser gekommen, dessen Radioaktivität mit 3,9 Millionen Becquerel pro Kubikzentimeter 10.000fach höher ist als bei Wasser, das sonst in einem laufenden Reaktor vorgefunden wird, erklärte der Sprecher der Reaktorsicherheitsbehörde (Nisa), Hidehiko Nishiyama. Dies deute entweder auf eine partielle Kernschmelze mit einer Beschädigung des Reaktordruckbehälters hin oder auf eine Überhitzung des Abklingbeckens für abgebrannte Kernbrennstäbe. Der Sicherheitsbehälter des Reaktors könne jedoch nach den vorliegenden Messdaten noch "auf einem gewissen Niveau" funktionieren.

Gestern noch hatte das japanische Atomindustrie-Forum (JAIF) erklärt, dass auch dieses sogenannte Containment um den Reaktordruckbehälter intakt sei. Dieser Sicherheitsbehälter soll aus dem Druckbehälter austretende Strahlung aufhalten. Allerdings hatten Politiker im japanischen Parlament bereits gestern festgestellt, im Block 3 sei zu befürchten, dass das Containment seine Aufgabe nicht mehr vollständig erfüllt.

Eine teilweise Kernschmelze wird für die Reaktorkerne der Blöcke 1, 2 und 3 schon länger befürchtet. Die Abklingbecken in den Reaktorblöcken ähneln einem Swimmingpool, in dem verbrauchte Brennelemente Restwärme und -strahlung abgeben sollen. Im Reaktor 3 von Fukushima-Daiichi enthalten die Brennstäbe neben Uran auch Plutonium, ein besonders gefährliches, hochradioaktives und extrem giftiges Schwermetall.

Der offensichtlich noch immer völlig unklare Zustand der Atomanlage und die umstrittene Informationspolitik des AKW-Betreibers Tepco machen es extrem schwierig, einzuschätzen, was in Fukushima-1 tatsächlich passiert. Zwar werden regelmäßig Strahlenwerte von Messstationen am Kraftwerk und aus der Umgebung veröffentlicht. Trotzdem scheint die radioaktive Belastung, die immer wieder auch in größerer Entfernung zu Fukushima-1 beobachtet wird, die Verantwortlichen zu überraschen - genauso wie das radioaktive Jod im Leitungswasser die Einwohner Tokios überrascht hat.

Überrascht wurden die Betreiber des Kernkraftwerks offenbar auch von der extrem hohen Radioaktivität in dem Wasserbecken im Untergeschoss des Blocks 3, in dem sich die drei Arbeiter gestern extremer Strahlung ausgesetzt hatten. Die Verbrennungen, die sich die Helfer zugezogen haben, sind Symptome einer Strahlenkrankheit, mit denen man bei einer Strahlendosis ab fünf Sievert rechnen muss. Da die extreme Strahlung offenbar vor allem die Füße betrifft, bleibt zu hoffen, dass es langfristig nicht zu weitergehenden Gesundheitsfolgen kommt.

Woher die radioaktive Belastung dort komme, sei schwer festzustellen, heißt es. Mit anderen Worten: Tepco weiß schlichtweg nicht, wo sie herkommt. Genauso unbekannt war den Verantwortlichen offenbar, dass sich im Untergeschoss der Turbinenräume der Reaktorblöcke 1 und 2 ebenfalls stark radioaktiv belastetes Wasser befindet, von dem eine so große Gefahr ausgeht, dass die Arbeiten dort jetzt unterbrochen werden mussten.

Tepco gibt verstrahlten Arbeitern Mitschuld

Schwer nachzuvollziehen ist auch, wie Tepco die Verstrahlung der Arbeiter zu erklären versucht: "Wir vermuten, der Vorfall wurde dadurch verursacht, dass die Arbeiter die Strahlendosis im Arbeitsbereich auf der Grundlage der Prüfung vom 23. März als niedrig betrachteten und mit der Arbeit fortfuhren, ohne die Veränderung der Arbeitsbedingungen zu bemerken, obwohl ihre Strahlenmessgeräte sie warnten", heißt es in einer Presseerklärung. Demnach gibt der AKW-Betreiber den Technikern zumindest eine Mitverantwortung an dem Vorfall. Warum aber sollten die Arbeiter die Warnungen ihrer Dosimeter ignorieren?

Die von der Verstrahlung betroffenen Männer hatten am Donnerstag im Tiefgeschoss eines Turbinengebäudes von Block 3 gearbeitet. Dabei hatten sie offenbar keine Schutzstiefel an, so dass ihnen das radioaktiv belastete Wasser in die Schuhe gelaufen war. Wie Tepco meldet, lag die Strahlendosis an der Wasseroberfläche bei etwa 400 Millisievert pro Stunde. Das Wasser selbst wies eine Radioaktivität von 3,9 Millionen Becquerel pro Kubikzentimeter auf. Zwei der drei Arbeiter kamen mit Verbrennungen, die möglicherweise auf Betastrahlung zurückgehen, in eine Spezialklinik, erklärte Tepco.

An diesem Freitag sollen sie vom Krankenhaus in Fukushima nach Chiba südöstlich von Tokio verlegt werden, und zwar in das Nationale Institut für Strahlenforschung, wie Kyodo berichtete. Hier sollen sie voraussichtlich vier Tage lang beobachtet werden.

Die japanische Reaktorsicherheitsbehörde (Nisa) forderte Tepco zu wirksameren Schutzmaßnahmen auf. Die Leitung der Behörde habe deswegen Kontakt zu dem Unternehmen aufgenommen, sagte Nisa-Sprecher Hidehiko Nishiyama. Tepco wies seine weiter in Fukushima-1 arbeitenden Ingenieure nun noch einmal auf die Gefahren hin.

Wie gefährlich die radioaktive Strahlung, die von Fukushima-1 ausgeht, für die Bevölkerung ist, ist offenbar noch immer genauso unklar wie die Situation in der Anlage selbst. Zwar plant die japanische Regierung derzeit keine Ausweitung der Evakuierungszone um das havarierte Atomkraftwerk. Regierungssprecher Yukio Edano sagte aber jetzt, den Bewohnern des Gebiets in einer Entfernung von 20 bis 30 Kilometern um das Kraftwerk Fukushima-Daiichi werde empfohlen, sich freiwillig in weiter entfernte Regionen zu begeben.

Diese Empfehlung erfolge aber nicht aus Sicherheitsgründen, betonte Edano nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Kyodo. Um wachsende Probleme im Alltag zu vermeiden, hätten bereits zahlreiche Bewohner dieses Streifens von sich aus dieses Gebiet verlassen. Die Evakuierungszone erstreckt sich über einen Radius von 20 Kilometern um das Atomkraftwerk. Darüber hinaus wurde die in einer Entfernung von 20 bis 30 Kilometern lebende Bevölkerung aufgerufen, ihr Haus nicht zu verlassen und sich möglichst nicht im Freien aufzuhalten.

Unterdessen bemühen sich die Einsatzkräfte weiter, die teilweise zerstörten Reaktorblöcke des Kraftwerks unter Kontrolle zu bringen. Um der Erhitzung der Brennelemente in den Blöcken 1, 3 und 4 entgegenzuwirken, soll dort nach einem Bericht von NHK weiter von außen mit Meerwasser gekühlt werden. Dies habe zurzeit Priorität. Über diesen drei Reaktoren stieg am Freitag erneut weißer Dampf auf. Die Arbeiten zur Wiederherstellung der regulären Kühlung sind bislang offenbar kaum vorangekommen.

Sorge vor Verkrustung der Kernbrennstäbe

Die japanische Regierung ist besorgt, dass die fortgesetzte Kühlung des Atomkraftwerks Fukushima mit Meerwasser von außen zu einer Salzverkrustung der Kernbrennstäbe und damit zu neuen Risiken führen könnte. "Salz ist für uns eine große Sorge", sagte Verteidigungsminister Toshimi Kitazawa zu NHK. Es sei notwendig, sehr schnell die Umstellung auf eine Kühlung mit Süßwasser zu erreichen. Dazu habe die US-Regierung ihre Hilfe angeboten, sagte Kitazawa.

In den USA warnte der ehemalige Reaktorsicherheitschef des Konzerns General Electric, Richard Lahey, dass Salz die Brennstäbe verkrusten und damit die Kühlung blockieren könnte. Nach einem Bericht der New York Times schätzte Lahey, dass sich im Reaktorblock 1 etwa 26 Tonnen Salz angesammelt haben könnten, in den Blöcken 2 und 3 sogar jeweils 45 Tonnen. General Electric hat das grundlegende Design der Siedewasserreaktoren in Fukushima entwickelt.

Die Verstrahlung der Umwelt und die radiokative Belastung von Lebensmitteln werde sich weiter ausbreiten, sagte der Umweltwissenschaftler Kentaro Murano von der Hosei-Universität in Tokio dem Fernsehsender NHK. "Die Auswirkungen der Radioaktivität werden noch für einige Zeit andauern." In sechs Präfekturen übersteigt die Jod-131-Belastung des Leitungswassers den zulässigen Grenzwert.

Inzwischen erwägt die japanische Regierung in Reaktion auf die Nuklearkatastrophe neue Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke. Das erklärte Wirtschaftsminister Banri Kaieda am Freitag. Auf diese Weise will die Regierung Menschen in der Umgebung von Kernkraftwerken ihre zunehmende Besorgnis nehmen. Die neuen Richtlinien sollen beim Wiederanfahren von AKW, die derzeit Routineüberprüfungen unterzogen werden, gelten. Nach Darstellung des Ministers könnte es im Sommer, wenn im ganzen Land die Klimaanlagen auf Hochtouren laufen, wegen der Katastrophe von Fukushima zu einer Stromunterversorgung kommen. Demnach dürften im Raum Tokio bis zu 15 Millionen Kilowatt fehlen.

Tsunami: Mehr als 10.000 Todesopfer

Genau zwei Wochen nach der verheerenden Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan ist die Zahl der bestätigten Todesopfer auf mehr als 10.000 gestiegen. Das berichtete die japanische Nachrichtenagentur Kyodo. Es wird eine noch deutlich höhere Zahl von Todesopfern befürchtet. Die nationale Polizeibehörde, die die Opferzahlen aus den betroffenen Präfekturen sammelt, konnte die Zahl zunächst nicht bestätigen. Sie hatte am Donnerstagabend die Zahl der bestätigten Todesfälle mit 9811 angegeben. 17.541 Menschen wurden demnach noch vermisst.

In der Präfektur Miyagi veröffentlichte die Polizei Informationen zu mehr als 2000 Leichen im Internet mit der Bitte, bei der Identifizierung zu helfen. Dazu gehören Angaben zur Kleidung oder zur Körpergröße. In den Präfekturen Miyagi und Iwate begannen die Behörden damit, Leichen ohne die in Japan übliche Einäscherung beizusetzen, weil die Krematorien überlastet sind.

Die japanische Regierung hat den im Erdbeben und Tsunami entstandenen Schaden an Gebäuden und Straßen auf rund 200 Milliarden Euro geschätzt. Die Kosten belaufen sich voraussichtlich auf 16 bis 25 Billionen Yen (193,3 bis 217,7 Milliarden Euro), teilte die Regierung laut Kyodo mit. Der Internationale Währungsfonds (IWF) nannte Schätzungen, wonach sich die Schäden auf drei bis fünf Prozent des japanischen Bruttoinlandsprodukts belaufen.

Der IWF-Missionschef für Japan, Mahmood Pradhan, sagte nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Kyodo, Japan verfüge über genügend Rücklagen, um den Wiederaufbau nach der Katastrophe vom 11. März aus eigener Kraft zu finanzieren. Allerdings gebe es aufgrund der ungeklärten Situation nach dem Unglück im AKW Fukushima-1 noch erhebliche Unsicherheiten in der Beurteilung der wirtschaftlichen Tragweite der Katastrophe.

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