Virtuelle Akustik:Ohren für morgen

Virtuelle Akustik: Psychoakustiker Bernhard Seeber (l.) und sein Doktorand Norbert Kolotzek testen das 3-D-Lautsprechersystem des neuen akustischen Labors.

Psychoakustiker Bernhard Seeber (l.) und sein Doktorand Norbert Kolotzek testen das 3-D-Lautsprechersystem des neuen akustischen Labors.

(Foto: Astrid Eckert)

Einfahrende U-Bahnen, Vogelgezwitscher, Orchestermusik: In einem einzigartigen Labor an der TU München können Ingenieure komplexe Klangwelten simulieren und analysieren. Vor allem aber wollen sie schwerhörigen Menschen helfen.

Von Hubert Filser

Am Bahnsteig gegenüber fährt eine U-Bahn ein. Türen öffnen sich, Menschen strömen heraus, man hört ihre Schritte auf dem Steinboden. Die meisten gehen schnell in Richtung Ausgang hoch zum Königsplatz. Doch wenn man die Augen öffnet, sieht man keine Waggons und auch keine Menschen, man blickt auch nicht auf die griechischen Steinskulpturen, die in der Bahnsteigmitte der Station stehen, sondern auf spitze, gelbe Keile, die von allen Seiten in den Raum ragen.

Man steht auch nicht auf einem festen Bahnsteig, sondern auf einem löchrigen, an den Rändern festgezurrten Edelstahlgeflecht. In Augenhöhe hängt ein Ring mit 36 Lautsprechern, und jeweils 12 weitere leicht nach oben und unten versetzt. Aus ihnen kommt die perfekte Simulation. "Täuschend echt, oder?", sagt der Münchner Psychoakustiker Bernhard Seeber. "Real-time Simulated Open Field Environment" nennt er das System.

Der Münchner Psychoakustiker demonstriert seinem Besucher den neuen "Reflexionsarmen Raum" (RAR), der Ende April im Innenstadtcampus der Technischen Universität München eröffnet worden ist. Von außen sieht man dem schmucklosen Quader gar nicht an, welche Möglichkeiten in ihm stecken. Schon bautechnisch ist er höchst anspruchsvoll. Er ist eine Art Gebäude innerhalb eines Gebäudes. Der quaderförmige Raum steht frei auf einer Gummimatte. Man entkoppelt dadurch den Raum von seiner Umgebung, so lassen sich Vibrationen auf ein Minimum beschränken. Zudem ist zwischen Außenhülle und Innenraum ein Luftspalt, dies reduziert Schall von außen.

Der Raum selbst besteht aus einem Stahlrahmen, in den sowohl an den Wänden wie an Decke und Boden jeweils paarweise waagrecht und senkrecht zueinander etwa 85 Zentimeter tiefe, abgeschrägte Mineralfaserkeile eingehängt werden. Sie sorgen dafür, dass der Schall nicht zurückgeworfen wird, er wird quasi zwischen den Keilen verschluckt.

Der Raum ist so designt, dass er etwa Null Sone hat, so heißt die psychoakustische Maßeinheit für die subjektive Lautheit eines Schallereignisses. Geräusche sind dann nicht mehr hörbar. Man befindet sich, wenn nicht gerade eine U-Bahn-Station simuliert wird, in einem der leisesten Orte Münchens. Dieser Raum ist europaweit eine der modernsten Einrichtungen für akustische Experimente.

Im Labor kann jeder beliebige Raum auf der Erde erzeugt werden

Seeber bittet den Besucher, sich auf den festgeschraubten Hocker in der Raummitte zu setzen und erneut die Augen zu schließen. Vogelgezwitscher ist nun zu hören, knirschender Kies, Frauenstimmen und das Rauschen eines Baches. Ein Fahrrad fährt vorbei, und plötzlich erschrickt man und will die energische Hummel abwehren, die sich wie aus dem Nichts zu nähern scheint. Als man die Augen öffnet, ist da natürlich nichts, akustisch aber hat man sich gerade im Englischen Garten befunden.

"Ich kann sie hier in jeden beliebigen Raum auf der Erde versetzen", sagt Seeber. "Den können Sie dann in Echtzeit erkunden." Damit das möglich ist, laufen draußen im Kontrollraum die Rechner mit der Simulationssoftware auf Hochtouren. Echtzeit bedeutet, dass sich für jegliche Art psychoakustischer Versuche real wirkende Klangwelten simulieren lassen, das ist ziemlich einzigartig. "Wir bringen die Realität ins Labor", sagt Seeber.

Diese virtuelle Akustik ist ein relativ neuer Forschungszweig, man versucht dabei, ganze Räume hörbar zu machen, seien es Außenanlagen, Konzertsäale oder Klassenzimmer. Die Möglichkeiten im RAR sind enorm, es lässt sich sogar die Akustik von Räume oder Autoinnenräumen erforschen, die bislang nur im Computer eines Designers existieren.

Testpersonen können mit den Geräuschen interagieren

Normalerweise prüfen Ingenieure in solchen High-Tech-Laboren eher die akustischen Eigenschaften von Geräten wie Mikrofone oder Lautsprecher. Sie können aber prinzipiell das Klangbild jedes Gegenstands analysieren, dabei etwa das Klappgeräusch eines Notebooks genauso optimieren wie den Sound einer Kaffeemaschine oder den Klang eines neuen Elektroautos. Tatsächlich lassen sich im Münchner RAR auch reale ganze Autos vermessen, er ist mit seinen Abmessungen von zehn mal sechs mal vier Metern und dem riesigen Außenaufzug so dimensioniert, dass sich durch eine seitliche Luke Fahrzeuge auf Schienen in den Raum schieben lassen. Doch das wichtigste Testobjekt werden Menschen sein.

Für Seeber sind die Simulationen viel mehr als technische Spielerei. Die Forscher könnten die verschiedensten Ereignisse und ihre Auswirkungen auf das Gehör im neuen RAR unter kontrollierten Bedingungen testen. So wollen sie ganz grundsätzlich besser verstehen, wie das Hören funktioniert.

So kann man zum Beispiel herausfinden, warum bestimmte Situationen - unabhängig von der Lautstärke - als angenehm oder störend empfunden werden. Vor allem aber wollen sie schwerhörigen Menschen helfen. Seebers Spezialgebiet sind Hörgeräte und Cochlea-Implantate. "Schwerhörige und auch Cochlea-Implantat-Patienten tun sich schwer, aus dem Durcheinander von Stimmen und Geräuschen die relevanten Informationen herauszufiltern, sie können nur schlecht einzelne Stimmen in voll besetzten Räumen erfassen", sagt Seeber. Die Simulationen in Echtzeit können realistische Hörsituationen nachahmen, die häufig Probleme bereiten, etwa das Stimmengewirr in einem Café. "Hier arbeiten wir an neuen Algorithmen, die die Umgebung und die Situation analysieren und entsprechend die wichtigen Schallanteile verstärken und die unwichtigen herunterregeln." Der Trick dabei ist: Der Algorithmus optimiert die Signale für das räumliche Hören mit beiden Ohren.

Für ihre Simulation betreiben die Forscher großen Aufwand. Sie modellieren die Geometrie eines Raums und berechnen dann die Ausbreitung von Schallwellen für den Frequenzbereich von 100 bis 20 000 Hertz, also praktisch für alle Frequenzen, die ein menschliches Ohr wahrnehmen kann. So kann sich eine Testperson im Akustik-Labor dann in Echtzeit durch jede Art von Hörsituation bewegen.

Allein für die frühen Reflexionen steht ein eigener Rechner zur Verfügung. "Der spätere Teil des Schallfeldes ist komplizierter zu berechnen", so Seeber. Tiefe Töne mit ihren meterlangen Wellen reagieren anders auf Hindernisse als die millimeterkleinen Wellen der hohen Töne, über Spiegelmodelle und frequenzabhängige Absorptionskoeffizienten bilden die Forscher die jeweilige Umgebungen und Räume mit ihren Flächen und Nischen ab - ein extrem aufwendiges Verfahren. Um die Software zu testen, modelliert Seeber mit seinem Team einen real existierenden Laborraum aus dem Institutsgebäude in der Münchner Theresienstraße und gleicht die Simulation mit dem real gemessenen Raumklang ab.

So ist ein ideales Testlabor entstanden. "Wir können mit Hilfe unserer 60 Lautsprecher und der neuen Software die Geräusche komplexer Hörsituationen realistisch und interaktiv nachbilden", sagt Seeber. Die Forscher können nicht nur Geräuschquellen virtuell im Raum bewegen, sondern die Testpersonen auch mit den Geräuschen interagieren lassen, etwa wenn sie sich im Raum bewegen oder bei einer Unterhaltung den Kopf drehen. Diese Dynamik wurde bei Hörgeräten bislang überhaupt nicht berücksichtigt. Klassische Hörgeräte funktionierten gut, wenn man seinem Gesprächspartner gegenüber sitze. "Sobald jemand kurz zur Seite schaut, können die Träger die Schallquelle nicht mehr exakt orten, hier passieren Fehler bis 15 Grad."

Und plötzlich hört man das eigene Blut in den Adern rauschen

Hilfreich ist dabei, dass die Forscher mit Hilfe von vier 3-D-Videoprojektoren zum akustischen auch einen visuellen Eindruck jeder beliebigen Situation einspielen können. Acht Infrarotkameras erfassen mit Hilfe von Tracking-Brillen die Bewegungen der Personen im Raum und passen die Simulation an. "Jegliche Art audiovisueller Interaktionsstudien ist denkbar", so Seeber. "Wir können mit Kollegen aus anderen Disziplinen testen, wie Hören und Sehen gemeinsam im Gehirn verarbeitet werden." Ungeklärt ist zum Beispiel die Frage, welchen Beitrag die visuelle Information zum Hören leistet und inwieweit Lippenlesen bei Schwerhörigen eine Rolle in realen Situationen spielt.

Seeber erinnert sich an die Anfänge der Modellierung, als er Postdoc an der Univesity of Berkeley und dann Programm-Leiter in Nottingham war. "Anfangs brauchten wir für die Berechnung selbst eines einfachen Raumes mit nur wenigen Eigenheiten wie Ecken, Vorsprüngen oder größeren Einrichtungsgegenständen rund 24 Stunden, jetzt schaffen wir das in Millisekunden", erzählt Seeber. Vor gut einem Jahrzehnt war ein statisches Abbild des Schallfeldes möglich, jetzt ist es dynamisch. Dreimal pro Sekunde wird das Schallfeld mit vielen Millionen Reflexionen neu berechnet.

Doch auch, wenn alle Lautsprecher stumm geschaltet sind, lassen sich eingehende Erfahrung im RAR machen. So lässt sich der Wahrheitsgehalt urbaner Mythen ergründen, nach denen Stille wie Folter wirkt und man nach einer Weile durchdrehen würde. Als man fragt, ob man das nicht mal ausprobieren könne, nickt er nur und Sekunden später ist man allein. Schlagartig legt sich ein Druck aufs Ohr. "Unser Gehirn erwartet Reflexionen", sagt Seeber. "Bleiben sie aus, irritiert uns das." Als sich die Tür schließt und die dicken Faserkeilwände einen komplett umhüllen, passiert erst einmal: nichts. Nach einer Weile nimmt man dezent Töne wahr, die man sonst nicht hören würde: das Rauschen des Blutes in den Adern, das Schlagen des eigenen Herzens.

Dabei ist der RAR beileibe nicht der stillste Raum der Welt. Das ist seit Kurzem das Audio Lab von Microsoft am Firmenstammsitz im amerikanischen Redmond: -20,3 Dezibel herrschen dort angeblich. Damit ist man schon nah am theoretisch auf der Erde erreichbaren Minimum: -23 Dezibel ist es nämlich noch laut, wenn zwei Luftmoleküle aufgrund der Brownschen Bewegung aufeinandertreffen. "Ich halte die Angabe von -20,3 dB für schwierig", reißt einen Seeber aus der Rekordbegeisterung. "Wie soll man das messen? Da sind doch allein die Eigengeräusche der Messmikrophone deutlich stärker!"

Absolute Stille ist für jeden unterschiedlich anstrengend

Wie lange man die absolute Stille aushält, ist von Person zu Person unterschiedlich. Manchen stresst sie bereits nach kurzer Zeit, andere halten länger durch. Das Gehirn hat deutlich weniger Orientierungspunkte, zumal wenn es auch noch dunkel ist. Interessant ist der kleine Selbstversuch allemal. Man spürt schnell, welch sensibles System das Gehör ist. Er werde oft gefragt, was Stille sei, erzählt Seeber. "Wir Psychoakustiker verstehen Stille als Schall, den wir nicht mehr hören können. Er kann durchaus mit Geräten messbar sein, ist aber eben nicht mehr über unsere Ohren wahrnehmbar." Akustiker nähern sich dem Thema Stille also eher pragmatisch. Sie erwähnen dann Begriffe wie Ruhehörschwelle und Schallpegel. "In der Natur ist ein stiller Ort die Gipfelspitze eines dick mit Neuschnee bedeckten Berges - wenn kein Wind bläst", sagt Seeber.

Spannend wäre es jetzt, wenn man sich nun auch mal anhören könnte, wie sich wohl das größte akustische Zukunftsprojekt der nächsten in München anhören wird. Doch dafür reicht die Zeit nicht. "Wir könnten sogar den neuen Münchner Konzertsaal simulieren", sagt Seeber. "Das würde zwar einige Monate dauern, aber dann könnten Sie hier den Klang des Orchesters hören, ehe die Baugrube ausgehoben ist." Dann würden Geigen, Kontrabässe und Trommeln erklingen und man könnte sich per Knopfdruck von einem möglichen Saal in den nächsten bewegen und am Ende entscheiden, wo der Klang am schönsten ist. Dafür muss man dann nur wieder die Augen schließen und ruhig zuhören.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: