Vom Wandel der Arktis:Letzte Ausfahrt Norden

Die Arktis war immer Sehnsuchtsort für Aussteiger und Abenteurer. Jetzt wird sie domestiziert, geplündert und damit weiter zerstört - diesmal vielleicht endgültig.

Von Petra Steinberger

Die Arktis schmilzt

Schnee und Eis soweit das Auge reicht - das könnte bald vorbei sein.

(Foto: Lucas Jackson/Reuters)

Es muss ein erhabenes Gefühl gewesen sein für die erschöpften Menschen, die sich Monate über verschneite Pässe gequält hatten - und jetzt hinuntersahen ins weite Tal des Yukon, dort, wo man das Gold entdeckt hatte. Dort, im Nordwesten Kanadas, war 1896 der letzte große Goldrausch ausgebrochen. Die kalifornischen Felder waren längst leergeräumt, aber hier, nicht mehr weit vom Polarkreis entfernt, konnte man noch einmal neu beginnen. In eisiger Kälte steckten die Goldsucher ihre Claims ab, durchwühlten das Land, lebten hart, starben schnell. 100.000 waren aufgebrochen, 40.000 kamen an - und verschwanden fast alle wieder nach ein, zwei Jahren. Die Arktis schüttelte die Hinterlassenschaften der Goldsucher ab und fiel, vielleicht zum letzten Mal, in einen eisigen Schlaf.

Der "Hohe Norden", das Land nördlich des Polarkreises, knapp über dem 66. Breitengrad oder, für andere, nördlich der Baumgrenze, gilt heute als die letzte Grenze, the last frontier - und vor allem als die letzte Frontier der westlichen Hemisphäre. In Russland lagen dort einst die Gulags, jetzt herrscht Trostlosigkeit, aber der hohe Norden Amerikas ist Mythos und Spiegel für alle, die der Städte und der konsumorientierten, dekadenten Zivilisation des Südens überdrüssig sind, die von Freiheit träumen und Selbstverwirklichung.

In diesen Tagen wird die arktische Region wiederentdeckt- als gewaltiges Rohstofflager und als neue Seeroute des Welthandels. Durch diese Ausbeutung wird sie aber auch zerstört, diesmal vielleicht endgültig. "Der Norden verschwindet", überschrieb der Economist vor Kurzem ein Special über die Arktis. Das Eis schmilzt, nirgendwo sind die Ausmaße des Klimawandels so heftig zu spüren wie hier. Vielleicht schwingen sich die alten Phantasien und Mythen deshalb noch einmal auf, wenn auch oft im neuen Gewand der Wissenschaft und des Naturschutzes.

Darin gleicht das Schicksal des Nordens, zumindest auf den ersten Blick, dem des amerikanischen Westens, jenem anderen magischen Grenzgebiet der westlichen Hemisphäre. Damals, gerade als der Westen erobert und bezwungen war, als der letzte Indianer in die Reservate gedrängt und das Land verteilt worden war; gerade als die beginnende Industrialisierung die Amerikaner in die Städte trieb; gerade in diesem Moment, als die Wildnis nicht mehr bedrohlich, sondern fast nur noch Erinnerung war, überhöhte man sie zum nostalgischen Kristallisationspunkt des amerikanischen Charakters.

Der bekannteste Propagandist dieses Mythos war der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner. 1863 erschien sein Essay "Die Bedeutung der Frontier in der Geschichte Amerikas", in dem Turner die These aufstellt, dass es gerade die Auseinandersetzung zwischen Zivilisation und ungezähmter Natur war, die Amerika jenen besonderen Charakter entwickeln und, im Gegensatz zu Europa, eine wirklich freie Gesellschaft schaffen ließ. Was aber, fragte Turner, würde passieren nach dem closing of the frontier, nach dem Ende des Grenzlandes? Würde es Amerika schwächen und in die Dekadenz treiben?

"Solche Orte sollten unerforscht bleiben"

Heute scheint es, als habe die Arktis die Rolle dieser wilden Natur übernommen, an der sich der Mensch abarbeiten und überhöhen kann - ist sie doch noch immer eine der am wenigsten erforschten Gegenden der Erde, der ausgefranste Rand der kontinentalen Landmassen, die sich bis vor Kurzem rund um das Polarmeer unter das Eisfeld schiebt.

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Auch Wissenschaflter und Umweltschützer kommen zunehmend in die Arktis. Auf dem Bild: eine norwegische Forschungsstation.

(Foto: AFP)

Dabei ist sie nicht wirklich menschenleer wie die Antarktis oder inzwischen vollständig "zivilisiert" wie der amerikanische Westen. Sie ist vielmehr beider Gegenentwurf. Denn sie ist zwar längst aufgeteilt unter den Anrainerstaaten, doch leben in der gesamten Arktis, auf einer Fläche von rund acht Millionen Quadratkilometern, auf einer Landfläche mehr als 22-mal so groß wie Deutschland, nicht einmal vier Millionen Menschen - die Hälfte von ihnen in den unwirtlichen Städten der postsowjetischen Zeit wie Murmansk. Der riesige Rest ist praktisch menschenleer.

Die Arktis, schreibt Sara Wheeler, britische Reiseschriftstellerin und Chronistin der Polarwelt, "fängt den Geist unserer Zeit ein", die Unsicherheiten und Zweifel, die sie begleiten, die Zerrissenheit, die Ambivalenz. "Solche Orte sollten unerforscht bleiben", schreibt sie auch, sollten erhalten werden "als Jagdreviere für die poetische Phantasie".

Sie ist dabei nicht die Einzige: Der norwegische Entdecker und Nobelpreisträger Fridtjof Nansen war von Polarnächten und der unwirtlichen Landschaft magisch angezogen; der Vater der amerikanischen Umweltbewegung, John Muir, erklärte Alaska zu seiner großen Liebe. In seinem Klassiker "Travels in Alaska" entwickelte er Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee von der Erhaltung der Natur, das also, was man heute profan als "Landschaftsschutz" definiert. Der Norden entlockte der Schriftstellern lithurgische Elegien und brachte sie dazu, Natur und Wildnis neu zu begreifen. "Diese Landschaft", schrieb der kalifornische Autor Barry Lopez in seinem preisgekrönten Nonfiction-Werk "Arctic Dreams", "kann auf merkwürdige Weise unsere selbstgefälligen Gedanken über das Land im Allgemeinen bloßstellen".

Aber auch das war die Arktis: der eroberungswürdige Fleck auf der Weltkarte im Wettlauf um die Pole, der Hochstapler genauso herausforderte wie Sucher nach dem letzten männlichen Abenteuer. Sie war Schauplatz von Jack Londons "Ruf der Wildnis" und dessen neues Eden während des Goldrausches. Sie war das dunkelste Schlachtfeld im Kalten Krieg, das der Beat-Poet Allan Ginsberg 1956 auf einem amerikanischen Militärschiff besuchte - nach dem Tod seiner russischen Mutter: Das Private und das Politische mischten sich in seinen Reisetagebüchern; um über den Kalten Krieg und seine Gesichtslosigkeit zu meditieren, gab es wohl keinen besseren Ort als diese kalte, dunkle, unnahbare Welt, in der sich Abhörstationen beider Seiten verstecken konnten.

Schließlich wurde die Arktis zum Sehnsuchtsort von Künstlern, Aussteigern, Hippies: 1960 reiste der togoische Autor Tété-Michel Kpomassie nach Grönland und lebte dort zehn Jahre mit den Inuit - zweimal so groß wie sie und vermutlich der einzige Schwarze im Umkreis von mehr als tausend Kilometern. 1992 marschierte Chris McCandless, ein kalifornischer Elitestudent, mit einer Kleinkaliberwaffe und einem Buch über Beeren in die Wildnis von Alaska; Monate später fand man seine Leiche, er war verhungert. Für den US-Autor Jon Krakauer wurde er zum Symbol des Suchers nach Freiheit, zum glücklosen modernen Walden, der sich den Fallen und Abhängigkeiten einer verstädterten Welt entziehen will. McCandless' Schicksal zeigte aber auch: Es waren immer nur sehr wenige Menschen, die sich der Härte der arktischen Realität aussetzten - und sie überlebten.

Gletscher schmelzen, Orte versinken im Schlamm

In den letzten Jahren haben zwei nicht zu trennende Entwicklungen die Arktis aus ihrer Abgeschiedenheit zurück ins Weltgeschehen geholt: der Klimawandel und die unermüdliche Suche nach Rohstoffen - beides Entwicklungen, die maßgeblich vom Menschen gesteuert und verantwortet werden. Mitte September berichtete das National Snow and Ice Data Center in Boulder, Colorado, dass das Polarmeereis auf unter 3,4 Millionen Quadratkilometer geschmolzen war - was nur noch der Hälfte der Eisfläche in den Achtziger- und Neunzigerjahren entspricht. Aufgrund dieser Daten prognostiziert einer der führenden Experten der Polarkappen, Peter Wadhams von der Universität Cambridge, einen eisfreien arktischen Sommer bis 2016. Die Erwärmung führt zum Schmelzen der arktischen Gletscher und des Permafrosts, Ortschaften versinken im Schlamm.

Eisfreie Sommer bedeuten aber auch: Die legendäre Nord-Ost-Passage durch das Eismeer wäre endlich offen, und die Energiereserven auf dem Grund des Polarmeeres könnten endlich angezapft werden. Seit Jahrzehnten schon kommt Öl aus dem Norden. Nun drängen die großen Konzerne einmal mehr in die Arktis, um aus Teersand und ölhaltigem Schiefer Öl zu pressen. Mit ihnen kommen die Umweltschützer, welche die letzte Wildnis wenigstens vor der nächsten Katastrophe retten wollen - bis heute gilt der 24. März 1989 als einer der schwärzesten Tage in der Geschichte der Arktis. An diesem Tag kenterte der amerikanische Supertanker Exxon Valdez, 37.000 Tonnen Rohöl liefen in den Prince-William-Sund vor Südalaska.

Im Gefolge der Klima- und Rohstoffdiskussion haben heute oft Wissenschafts- und Reiseautoren wie Sara Wheeler oder Gretel Ehrlich die Aufgabe übernommen, den Norden und seinen Mythos zu dokumentieren - und ihn dabei auch zu hinterfragen. Was nicht allen gefällt. Denn in einem wichtigen Punkt unterscheidet sich der Frontier-Mythos des Nordens von dem des alten Westens. Die Pioniere des Westens besiedelten das Land und machten es sich untertan. Der Pioniermythos des Nordens dreht sich zwar ebenfalls um den Kampf gegen die Natur - aber diese darf dabei auf keinen Fall kultiviert werden. Der hohe Norden muss der hohe Norden bleiben, eine unbezwungene Wildnis, in der der Mensch als Jäger und Trapper lebt.

Diese besondere Interpretation erklärt den Widerstand vieler in Alaska geborener Weißer wie Inuit gegen die neue Ölförderung, aber auch gegen die Umweltschützer-Vision einer unberührten, von menschlichen Einwirkungen völlig freien Wildnis. Denn sie wollen das Land ja nutzen, freilich ohne es dabei zu zerstören. Den Widerspruch zwischen individualistischen Alteingesessenen und romantischen Neuankömmlingen hat T. C. Boyle in seinem Roman "Drop City" vor ein paar Jahren thematisiert. Vor allem die Ureinwohner berufen sich auf das alte Recht auf Landnutzung - und beklagen die ethnozentrische Wildnis-Romantik, die so tue, als sei das Land vor den Weißen völlig leer gewesen. "Arcticism" nennen manche Wissenschaftler heute diese romantisierte Überhöhung der arktischen Einsamkeit, eine Reminiszenz an Edward Saids "Orientalismus".

Die Arktis dürften solche Debatten kaum noch verändern. Sie schmilzt.

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