Plastik-Industrie und Umweltschutz:Zündstoff Kunststoff

So geht es nicht weiter, sagt die Plastik-Industrie: Zweifel an Nutzen und Sicherheit ihrer Produkte gefährden die gesamte Branche. Doch ist Kunststoff etwa harmlos? Beim Dialog zwischen Herstellern und Kritikern offenbaren sich tiefgreifende Konflikte.

Patrick Illinger

Was kann man erwarten, wenn ein Industrieverband zur Jahrestagung einlädt? Ausführliche Selbstkritik? Wohl kaum. Eine Menge Marketing? Mit Sicherheit. Einen offenen Diskurs mit Kritikern? Eher selten. Wenn letzteres aber doch stattfindet, dann kann sogar eine Jahrestagung interessant werden. In diesem Fall geht es um ein Branchentreffen der europäischen Plastikindustrie in der vergangenen Woche in Wiesbaden.

Müllwagen

"Das Material, das wir zu hassen lieben": Plastik ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, macht aber auch jede Menge Müll.

(Foto: DPA-SZ)

Es ging um "das Material, das wir zu hassen lieben", wie es Patrick Thomas, Vorstandsvorsitzender von Bayer Material Science und Präsident des europäischen Branchenverbands Plasticseurope, umschreibt. Geliebt, weil Kunststoffprodukte seit den ersten Bakelit-Telefonen eine einzigartige Erfolgsgeschichte hingelegt haben. Plastik ist im 21. Jahrhundert zum festen und teilweise nützlichen Bestandteil des menschlichen Alltags geworden, was selbst radikale Ökologen kaum bezweifeln können. Dabei geht es nicht nur um Tüten und Plastikenten, sondern um Kunststoffe in Autos, Gebäudetechnik, Kleidung und als Verpackung von Getränken und Lebensmitteln.

Wurden weltweit im Jahr 1950 noch 1,7 Millionen Tonnen Plastikartikel hergestellt, sind es derzeit fast 300 Millionen Tonnen pro Jahr. Die Produktionskurve ist eine lehrbuchtaugliche Exponentialfunktion, die im Lauf der Zeit immer steiler ansteigt, lediglich mit einer kleinen Scharte als Folge des Krisenjahres 2008. Allein in Deutschland arbeiten nach Branchenangaben 381.000 Menschen an der Herstellung und Verarbeitung von Kunststoffprodukten sowie dem Bau von Maschinen, mit denen Kunststoff erzeugt und geformt wird.

Was mit Plastik alles möglich ist, zeigten europäische Branchenvertreter am ersten, dem werblichen Tag ihrer Tagung in Wiesbaden. Von Medizinprodukten über Gebäudefundamente bis hin zu Solar Impulse, dem ersten Flugzeug mit Solarantrieb - Plastik macht es möglich, so lautete die Botschaft. Haltbar, rostfrei, wärme- und schalldämmend, leichtgewichtig, sauber und einfach zu handhaben: Für Plastikprodukte finden die Hersteller erwartbar viele Pluspunkte.

Doch sind es genau diese, am Anfang der Wertschöpfungskette so erwünschten Eigenschaften, die am Ende des Life Cycle, wie es die Industrie nennt, für riesige Probleme und jenen "Hass" sorgen, den Verbandspräsident Thomas im Vorwort der Tagungseinladung erwähnt. Vor allem die Beständigkeit, aber auch die mitunter fragwürdige chemische Zusammensetzung immer neuer Plastikmaterialien, kehren den anfänglichen Nutzen ins krasse Gegenteil.

Plastikmüll, der zum Teil Jahrhunderte lang nicht verrotten wird, sammelt sich in Abfalldeponien, Ozeanen und an Küsten. Er verstopft Vogel- und Fischmägen, bröselt vor allem im Meer langsam vor sich hin und wird absehbar in die menschliche Nahrungskette eindringen. Längst stehen manche der industriell gesehen innovativen Inhaltsstoffe im Verdacht, dem menschlichen Organismus zu schaden.

Sind Gesundheitsbedenken nur schlechte Wissenschaft?

An kaum einem Produkt des Industriezeitalters zeigt sich das Spannungsfeld zwischen Innovation und Nachhaltigkeit so deutlich wie am Plastik. Dem europäischen Interessenverband der Kunststoffindustrie kann man nun zugutehalten, dass er mit diesem Zwiespalt und den immanenten Konflikten offensiv umgeht. Beim Jahrestreffen mit dem Titel "Polytalk" - eine Anspielung auf die vielen "Poly"-Präfixe in der Kunststoffnomenklatur - waren Entscheider und Politiker geladen, welche die fortschreitende Plastifizierung des Planeten keineswegs nur positiv sehen.

Während Jonathon Porritt, Urvater der grünen Bewegung Großbritanniens, zwar wortmächtig auftrat, aber vor allem den Klimawandel beklagte, nahm Axel Singhofen, Berater der Grünen im EU-Parlament, als Podiumsgast weder die Hand noch ein Blatt vor den Mund. Er habe die Einladung zu diesem Treffen beinahe abgesagt, als er den Titel der Diskussionsrunde las: "Fundierte Wissenschaft versus Gesundheitsbedenken". Diese Formulierung suggeriere einen Widerspruch, den es so nicht gebe, zudem sei die Metapher der "fundierten Wissenschaft" (englisch: sound science) einst von der Zigarettenindustrie missbraucht worden, um die Gesundheitsbedenken gegen Tabakrauch zu zerstreuen.

Zuvor hatte Janez Potocnik, der für Umwelt zuständige EU-Kommissar, ein freundliches verbales Gastgeschenk ausgebracht: "Ich glaube an die Zukunft der europäischen Plastikindustrie", diesem aber deutliche Mahnungen hinzugefügt: In der EU landeten noch fast die Hälfte aller Plastikprodukte auf Deponien, beklagte er. Und vom restlichen Plastikmüll werde zu viel einfach nur verbrannt, statt in neue Produkte verwandelt. Beide Raten müssten deutlich besser werden, forderte der Slowene.

Zu den Schlusslichtern Europas in Sachen Plastikentsorgung gehört übrigens Großbritannien. Dort wird gerade mal ein Drittel aller Plastikverpackungen wiederverwertet oder in Müllverbrennungsanlagen verheizt. Damit liegt das Königreich hinter Ländern wie Rumänien und den baltischen Staaten.

Für derlei Probleme habe sich die Industrie entschieden, aktiv nach Lösungen zu suchen, versicherte Wilfried Haensel, Geschäftsführer von Plasticseurope. Tatsächlich hat der Verband eine Kampagne gegen Plastikmüll im Meer gestartet. Künftig müsse man zudem schon beim Design neuer Produkte absehen, was nach deren Lebensspanne damit geschehen soll, ergänzte Verbandspräsident Patrick Thomas.

Große Einigkeit? Enorme Umbrüche? Leider zeigte der Höhepunkt der Tagung, eine Podiumsdiskussion, dass diesseits der großen Thesen viel Raum für Konflikte bleibt. Sobald die Debatte das Thema Bisphenol A streifte, ein Inhaltsstoff vieler Plastikprodukte, der im Verdacht steht, hormonelle Wirkung zu haben, verfielen die Diskutanten in mühseligen Hickhack. "Chemiker denken zu sehr an die Funktion und zu wenig an die Folgen", kritisierte die Journalistin und Autorin des Buches "Plastic: A Toxic Love Story".

Der Vizevorsitzende des BASF-Vorstands, Martin Brudermüller, verortete das Hauptproblem hingegen außerhalb seiner Branche: "Wir leben in einer Gesellschaft der Angst", klagte er und fügte einen plumpen Vergleich hinzu: Die Menschen stiegen in ein Flugzeug, ohne sich darum zu kümmern, wer die Maschine eigentlich fliege, aber bei Kunststoffprodukten mache man sich alle möglichen Sorgen. Ein Vergleich, der leider nach hinten losgeht: In der Luftfahrtindustrie gibt es bekanntlich rigide Zulassungs- und Kontrollmechanismen, genau das, was Kritiker für die Chemiebranche fordern.

An diesem Punkt entzündet sich denn auch die Kritik des Grünen-Beraters Singhofen. Sobald ein bromhaltiges Flammschutzmittel gebannt sei, klagt er, bringe die Industrie ein neues, ganz ähnliches bromhaltiges Flammschutzmittel auf den Markt. Man sei dem immer einen Schritt hinterher. Der Plastik-Sektor sei eben ein gewaltiges Feld für Innovationen, konterte BASF-Vorstand Brudermüller und warb für mehr Vertrauen und rationalere Reaktionen der Öffentlichkeit. Für die Haltung einer Generation, die von Seveso, Asbest und Contergan geprägt ist, zeigte der Chemiefunktionär wenig Verständnis. Doch ohne Ironie: Gut, dass darüber geredet wird.

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