Frage der Woche:Wie böse ist die Stiefmutter?

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Aschenputtel, Schneewittchen, die Goldmarie - im Märchen werden Kinder immer wieder von der bösen Stiefmutter misshandelt. Was steckt da eigentlich dahinter? Und gibt es auch den bösen Stiefvater?

M. C. Schulte von Drach

Immer wieder stößt man in bekannten Märchen auf das Motiv der bösen Stiefmutter, die die eigenen Kinder besser behandelt als jene, die der Vater mit in die Ehe gebracht hat. Aschenputtels Leidensgeschichte etwa beginnt, nachdem ihr Vater eine Witwe heiratet, die zwei eigene Töchter mit in die Ehe bringt. Die Goldmarie in "Frau Holle" leidet unter ihrer Stiefmutter, die ihr leibliches Kind bevorzugt. Schneewittchens Stiefmutter erträgt es nicht, von der Tochter ihres neuen Gemahls an Schönheit übertroffen zu werden. Auch Hänsel und Gretel werden in der zweiten Fassung der Grimmschen Märchen (1819) auf das Betreiben der Stiefmutter im Wald ausgesetzt.

Die böse Königin vergiftet Schneewittchen -Illustration von Franz Jüttner (1865-1925). (Foto: Foto: oh)

Natürlich spiegeln Märchen die Realität nicht unverzerrt wider, wenn überhaupt. Trotzdem versuchen Wissenschaftler herauszufinden, welche Einflüsse bei der Entstehung gewirkt haben und ob die Geschichten den einen oder anderen wahren Kern besitzen.

Und das könnte auch im Falle der bösen, herzlosen Stiefmutter so sein. Darauf deuten eine Reihe wissenschaftlicher Studien hin.

Doch um Missverständnissen vorzubeugen: Erstens sind Stiefmütter in der Regel für die nicht leiblichen Kinder ein Vorteil - insbesondere wenn die leibliche Mutter sich nicht mehr um den Nachwuchs kümmern kann.

Und zweitens muss die Rolle des Stiefvaters natürlich genauso streng unter die Lupe genommen werden wie die der Stiefmutter, wenn es darum geht, welche Rolle die genetische Verwandtschaft für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern spielt.

Einige der wichtigsten Studien zum Thema Stiefeltern stammen von dem Forscherehepaar Martin Daly und Margo Wilson von der McMaster University in Hamilton, Kanada. Die Wissenschaftler hatten in den achtziger Jahren anhand von nordamerikanischen Kriminalstatistiken untersucht, ob Kinder in Familien mit Stiefmutter oder -vater ein höheres Sterberisiko haben als in Familien mit nur leiblichen Eltern.

Höheres Todesrisiko für Stiefkinder

In Kanada zum Beispiel wurden damals jährlich pro einer Million Kinder im Alter von bis zu drei Jahren etwa 640 Kinder von einem Elternteil getötet. Damit war die Zahl der getöteter Kinder 70 Mal größer als die unter ihren Altersgenossen, die mit beiden leiblichen Eltern lebten.

Weitere Analysen der Todesfälle kleinerer Kinder ergaben sogar ein hundertmal höheres Risiko für Stiefkinder, von einem Elternteil getötet zu werden. Und bei Teenagern war das Risiko immerhin noch 15 Mal so hoch.

Wie das Ehepaar berichtete, wurden Hinweise und Daten auf Unterschiede für Stief- und leibliche Kinder auch andernorts beobachtet. So wurden 32 Prozent der Kinder in England und Wales, die bei mindestens einem Stiefelter aufwuchsen, Opfer einer Misshandlung - und drei Prozent derjenigen Kinder, die nur bei leiblichen Eltern lebten.

Und in Finnland gaben 1996 fast vier Prozent der befragten fünfzehnjährigen Mädchen an, vom Stiefvater missbraucht worden zu sein, während 0,2 Prozent ihren leiblichen Vater beschuldigten. Asiatische Studien ergaben, dass Schüler häufiger über Schläge klagten, wenn sie mit einem Stiefvater oder einer Stiefmutter lebten, als wenn sie nur von leiblichen Eltern aufgezogen wurden. Und Stiefkinder verlassen früher das Elternhaus als leibliche Kinder.

Gravierende Unterschiede bei der Behandlung der Kinder wurden auch in archaischen Gesellschaften beobachtet, etwa bei den Aché, einem Stamm von Jägern und Sammeln in Paraguay. 43 Prozent aller Kinder mit einem Stiefvater erleben hier nicht das 15. Lebensjahr. Von jenen, die von den leiblichen Eltern versorgt werden, sterben dagegen 19 Prozent vorher.

Auch Studien deutscher Wissenschaftler deuten auf Nachteile für Stiefkinder. So untersuchten etwa Eckart Voland von der Universität Gießen zusammen mit Peter Stephan Kirchenbücher deutscher Ortschaften aus den vergangenen Jahrhunderten.

Wie sie feststellten, war die Lebenserwartung von Kindern zum Beispiel in der Ortschaft Ditfurt bei Quedlinburg im 17. bis 19. Jahrhundert im Durchschnitt etwa sieben Jahre geringer, wenn sie bei einer Stiefmutter lebten. Von 1000 Kindern, deren Vater nach dem Tod der Mutter nicht mehr heiratete, starben etwa 100 vor dem 15. Lebensjahr. Gab der Vater dagegen einer zweiten Frau das Jawort, stieg die Zahl der Todesfälle auf 130. Offenbar stellte die neue Frau in der Familie demnach ein gewisses Risiko für die Kinder dar.

Vor allem die Studien von Daly und Wilson erregten allerdings auch Unmut. Wie zum Beispiel Terry Sullivan von der University of Wisconsin in Madison kritisierte, könnte es sein, dass in den Kriminalstatistiken von vornherein mehr Stiefeltern als Verbrecher auftauchen als leibliche Eltern. Stiefeltern geraten, so vermutet der Philosoph, von vornherein schneller in Verdacht, ihre Kinder misshandelt zu haben. Auch hätten die beiden kanadischen Forscher nicht immer angegeben, wer von den Eltern eigentlich Gewalt angewendet hatte - der genetisch verwandte oder der Stiefelter.

Darüber hinaus gibt es einige Studien, die den Daten der Kanadier offenbar widersprechen. So stellten schwedische Wissenschaftler der Universität von Stockholm vor einigen Jahren fest, dass in den Jahren 1975 bis 1995 Kinder mit Stiefeltern nicht häufiger getötet wurden als Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern lebten.

Einen Unterschied hätte es lediglich zwischen Kindern in Familien mit beiden Eltern und jenen gegeben, die nur von einem Elternteil versorgt wurden. Letztere wurden häufiger Opfer von Gewalt.

Die schwedischen Forscher vermuteten, dass die Unterschiede zu den Ergebnissen ihrer kanadischen Kollegen möglicherweise damit zusammenhängen, dass in Schweden aufgrund einer liberaleren Haltung gegenüber einer Abtreibung weniger unerwünschte Kinder zur Welt kommen als in Nordamerika. Und "unerwünschte Geburten", so erklärten Hans Temrin und seine Kollegen, "könnten das Risiko der Kinder erhöhen, misshandelt zu werden".

Martin Daly und Margo Wilson bleiben jedoch bei ihren Schlussfolgerungen. Die schwedischen Forscher hätten ihre Daten falsch analysiert, kritisierten sie. So hatten Temrin und sein Team Kinder im Alter von bis zu fünfzehn Jahren zusammengeworfen. Eine Untersuchung der Originaldaten aus Stockholm für Kinder im Alter von ein bis vier Jahre zeigte ihnen zufolge dagegen ein erhöhtes Risiko für schwedische Stiefkinder.

Auch andere Studien, die ihren Ergebnissen widersprechen, halten ihrer Einschätzung zufolge einer genaueren Überprüfung nicht stand. So befragten Richard Gelles und John Harrop - damals an der University of Rhode Island, Kingston, USA -, Amerikaner über das Telefon und stellten fest, dass Stiefeltern nicht gewalttätiger sind als leibliche Eltern. Doch eine ehrliche Antwort, so kritisieren die Kanadier, bekommt am Telefon nicht unbedingt.

Biologische Erklärung

Umstritten ist allerdings auch die Erklärung von Daly und Wilson und anderer Wissenschaftler für das Verhalten einiger Stiefeltern: Sie gehen davon aus, dass Eltern eigentlich lieber in eigenen Nachwuchs investieren, um ihren Fortpflanzungserfolg zu maximieren. Kinder neuer Lebenspartner werden lediglich "in Kauf genommen".

Die Ansprüche des nicht verwandten Kindes werden dann möglicherweise weniger willig und angemessen erfüllt. Manche Stiefeltern reagieren sogar mit Kälte und Ablehnung. Und wenn noch Probleme auf Seiten der Erwachsenen hinzukommen - etwa erzieherische Unfähigkeit, psychische Störungen, Neigung zu Gewalt, Alkohol, Drogen - kann es für die Stiefkinder sogar tödlich ausgehen.

Aus Sicht von Evolutionsbiologen macht diese Erklärung Sinn. Dass es auf der anderen Seite die Adoption von nicht verwandten Kindern gibt, ist übrigens kein Widerspruch zu dem von Psychologen auch als "Cinderella-Effekt" bezeichneten Phänomen.

Adoptiveltern haben häufig keine eigenen Kinder, so dass die Adoptivkinder keine Konkurrenz haben. Auch werden Kinder normalerweise nur adoptiert, wenn die Eltern sich ausdrücklich Nachwuchs wünschen - auch wenn dieser nicht genetisch mit ihnen verwandt ist. Und wer Kinder adoptieren möchte, muss einen sorgfältigen Auswahlprozess über sich ergehen lassen.

Die böse Stiefmutter im Märchen ist demnach offenbar ein Mythos mit einem Körnchen Wahrheit. Und eigentlich müsste man, wenn überhaupt, von bösen Stiefeltern sprechen. Genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es ist, dass eine eitle Königin ihre Stieftochter misshandelt, ist es, dass ein König versucht, sie zu missbrauchen.

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