Forschung mit Nagetieren:Die Blendung mit der Maus

Biologen gewinnen grundlegende Erkenntnisse aus Versuchen mit Nagern. Allerdings werden die Ergebnisse oft leichtfertig auf den Menschen übertragen - obwohl es sich manche Forscher aus Kostengründen und Bequemlichkeit zu einfach machen.

Katrin Blawat

Das Gewürz Kurkuma hilft gegen chronische Leberentzündung. Eine Extraportion Aminosäuren im Essen verlängert das Leben. Und ein abwechslungsreiches Lebensumfeld lässt Tumore langsamer wachsen. Ist es also endlich geschafft? Lässt sich die Unsterblichkeit erlangen und der Krebs ausrotten?

Frühstück im Schnee

Frühstück im Schnee Mit Schneeflocken im Fell frisst am Samstag (25.12.2010) eine Maus das Vogelfutter in einem Garten in Hannover. Laut Vorhersage ist am Samstag in Niedersachsen mit einer Temperatur um Minus 6 Grad aber weitest gehend ohne Schneefall zu rechnen. Foto: Peter Steffen dpa/lni +++(c) dpa - Bildfunk+++

(Foto: dpa)

Solche Hoffnungen bekommen regelmäßig neue Nahrung, gäbe es da nicht ein entscheidendes Problem: Erfolge wie die eingangs genannten wurden mit Mäusen erzielt, und was Versuchstieren im Labor helfen mag, ist noch lange keine Heilung für den Menschen: "Mice tell lies" - Mäuse lügen, so lautet eine unter Wissenschaftlern gebräuchliche Phrase. Eine banale Erkenntnis, und doch halten es Wissenschaftler offenbar zunehmend für notwendig, sie in Erinnerung zu rufen. Freut euch nicht zu früh über Ergebnisse, die ihr an Mäusen gewonnen habt - so lassen sich mehrere kürzlich erschienene Veröffentlichungen in hochrangigen Fachjournalen zusammenfassen.

Allein in Deutschland standen im vergangenen Jahr knapp 1,9 Millionen Mäuse im Dienst der Wissenschaft. Niemand bezweifelt den enormen Fortschritt, den diese Tiere in der biomedizinischen Forschung ermöglichen. Seit die Züchterin Abbi Lathrop vor 100 Jahren beobachtete, wie sich Krebs in Mäusefamilien vererbt, profitieren vor allem Krebsforscher von den leicht zu handhabenden Nagern. Ihnen ist etwa das Wissen zu verdanken, welche Genvarianten Brustkrebs begünstigen.

Dass sich die Tiere aber auf vielen Gebieten als wenig hilfreich erwiesen haben, wollen nicht alle Forscher akzeptieren. Dabei seien Mäuse etwa in der Immunologie "lausige Modelle", wenn es um die Entwicklung neuer Medikamente geht, schreibt Mark Davis von der Stanford University im Fachblatt Immunity. Sein Lieblingsbeispiel ist die bisher erfolglose Suche nach einer Arznei gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Bei ALS-Patienten zerstört sich das Nervensystem, was letztlich zum Tod führt. Immer wieder gaben Maus-Versuche in den vergangenen Jahren zunächst Grund zur Hoffnung: Um Nagern zu helfen, die ähnliche Symptome wie ALS-Patienten zeigten, konnten die Wissenschaftler sogar unter mehr als 100 Wirkstoff-Kandidaten auswählen. Tatsächlich lebten einige der behandelten Mäuse länger als Tiere aus der Kontrollgruppe - das beste Kriterium für die Wirksamkeit einer neuen Arznei. Doch Tests an Menschen machten jede Hoffnung zunichte: Die Mittel halfen nichts, in einigen Fällen verschlechterten sie die Symptome sogar.

Auch Alzheimer-Forscher kennen das Wechselspiel von vorsichtigem Optimismus nach den ersten Maus-Studien und der anschließenden Enttäuschung, wenn sich neue Wirkstoffe am Menschen beweisen müssen. Ihren Modelltieren können Alzheimer-Experten helfen, menschlichen Patienten nicht. Allerdings zeigen die beiden Spezies auch unterschiedliche Symptome: Mäuse, an denen potentielle Alzheimer-Mittel getestet werden, bilden zwar die für die Krankheit typischen Ablagerungen im Gehirn. Doch leiden die Nager nicht unter massiven Gedächtnisverlusten. Für Forscher hat das zwar auch Vorteile, denn so können sie die einzelnen Komponenten einer Krankheit nacheinander verstehen lernen. Neue Medikamente aber lassen sich mit diesem Ansatz kaum entwickeln.

Derartige Einschränkungen müssen Forscher bei jedem Modelltier in Kauf nehmen, egal ob sie in ihren Laborställen Mäuse, Kaninchen oder Schweine halten. Die Maus aber bietet einzigartige praktische Vorteile. Für ihr kurzes Leben reicht ihr eine kleine, stapelbare und leicht zu reinigende Plastikbox, und sie fordert Tierpfleger nicht mit exotischen Ansprüchen an Raumklima oder Spezialnahrung. Die Proteste von Tierschützern fallen geringer aus als bei Schweinen, die Menschen in vielen Punkten physiologisch ähnlicher sind als Nagetiere. Zudem hat sich in den 100 Jahren seit Mäuse der Wissenschaft dienen, eine regelrechte Modellmaus-Industrie zwischen Laboren weltweit entwickelt. Mäuse mit nahezu jeder gewünschten genetischen Ausstattung reisen zwischen Braunschweig und Berkeley, zwischen Massachusetts und München um die Welt. Wenn Forscher Modelltiere austauschen, spart das Zeit und Geld. Möglicherweise führe es aber auch dazu, dass sich Forscher "bei jeder Fragestellung blind auf die Maus verlassen", wie Mark Davis kritisiert. "Wir scheinen ein Stadium erreicht zu haben, in dem so viel in das Mausmodell investiert wurde, dass es undenkbar erscheint, nach etwas anderem Ausschau zu halten", schreibt der Immunologe.

Auch Boris Greber, Stammzellforscher am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster, setzt weiterhin auf Mäuse. Doch will er dem Versuchstier und seiner eigenen Forschungsdisziplin künftig mehr Skepsis entgegenbringen. Greber verglich eine Art von Maus-Stammzellen mit menschlichen embryonalen Stammzellen und stellte sich die Frage, die wohl jedem einmal in den Sinn kommt, der mit Tieren arbeitet: Wie ähnlich sind sich Maus und Mensch auf Zell-Ebene? Die Antwort überraschte Greber, denn die Unterschiede waren unerwartet groß. Ein bestimmter Wachstumsfaktor garantiert zwar den Zellen beiden Typs Unsterblichkeit, jedoch durch unterschiedliche Mechanismen. Greber weiß, dass diese Erkenntnis vielen läppisch erscheinen mag und argumentiert: "Wenn es später einmal darum geht, Medikamente zu entwickeln, können solche Unterschiede entscheidend sein."

Um es deutlich zu sagen: Nicht die Maus ist Schuld an den zum Teil vernichtenden Urteilen der Wissenschaftler. Sondern der Mensch und sein Hang zur Bequemlichkeit und Schludrigkeit. Eine "mangelhafte Qualität" und Fehlinterpretationen bescheinigt der Alzheimer- Forscher Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen vielen Maus-Studien. Von "überoptimistischen Schlussfolgerungen aus methodisch fragwürdigen Tierstudien" spricht ein Team um den niederländischen Neurologen Bart van der Worp.

"Qualitativ gute Mausstudien sind aufwendig und teuer", sagt Jucker. Daher versuchen es viele Labore auf dem einfachen Weg - etwa, indem sie nur männliche Tiere benutzen. Deren Physiologie ist viel berechenbarer als die der Weibchen, bei denen Forscher immer wieder prüfen müssen, in welchem Zyklus-Stadium sich die Maus gerade befindet. Unlösbar ist dieses Problem nicht - es bedeutet nur mehr Versuche an mehr Tieren und eine aufwendigere Auswertung. Das ist bedenklich, weil man von vielen Krankheiten, etwa des Herz-Kreislauf-Systems, um geschlechtsspezifische Unterschiede beim Menschen weiß.

Wenn schon die geschlechtlichen Unterschiede so wenig Aufmerksamkeit erfahren, wie sieht es dann mit weniger offensichtlichen Merkmalen aus? Mit der genetischen Ausstattung zum Beispiel? Einmal angenommen, ein Forscher bestellt bei einem Kollegen eines anderen Labors eine Maus mit einer bestimmten genetischen Veränderung. Wenige Tage später trifft das Tier bei ihm ein, und er startet seine Experimente. Verlässt er sich ohne Überprüfung darauf, dass der Kollege ihm nicht aus Versehen das falsche Tier geschickt hat und dass die gewünschte Mutation nicht plötzlich durch eine erneute Mutation wieder verschwunden ist? In diesem Fall wäre "methodisch fragwürdig" ein sehr zurückhaltendes Urteil über die Qualität der Studie. "Wir überprüfen vor den Versuchen, ob wir mit den richtigen Tieren arbeiten und ob sich ihr Erbgut unbemerkt verändert hat", sagt Martin Hrabé de Angelis. Er ist Direktor der Deutschen Mausklinik in München, dem bundesweit größten Labor für Modellmäuse. Überall verbindlich sind derartige Tests jedoch nicht.

Lässt sich angesichts der harschen Kritik der Nutzen der Labormaus noch rechtfertigen? Die biomedizinische Forschung braucht Modelltiere, und die Kritik, die nun an Maus-Studien laut geworden ist, trifft auch auf jedes andere Modelltier zu. Also bleibt nur, die Forscher zu mehr Sorgfalt zu erziehen. Jucker fordert für Maus-Studien ähnliche Standards, wie sie für klinische Studien am Menschen üblich sind. Demnach müssten die Tiere zufällig der Wirkstoff- oder der Kontrollgruppe zugeteilt werden, auch die Experimentatoren dürften die Zuteilung nicht kennen; "randomisiert und doppelblind" heißen diese Qualitätskriterien in klinischen Studien.

Um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten, müssten außerdem mehr Mäuse pro Versuch verwendet werden. Bislang, so vermutet Jucker, werde manchmal die Anzahl der Tiere wohl exakt so gewählt, dass ein positives Studienergebnis gesichert sei. Vor allem für Fragestellungen, bei denen das Alter des Patienten eine Rolle spielt, etwa bei Alzheimer, müssten Wissenschaftler auch ältere Tiere einbeziehen. Schließlich müssten all diese Punkte in den Veröffentlichungen dargelegt werden, damit Kollegen die Qualität einer Maus-Studie beurteilen können.

Jucker ahnt, welche Konsequenz all seine Forderungen haben können: "Gäbe es für Tierstudien ebenso strenge Auflagen wie für klinische Studien am Menschen, hätten wahrscheinlich 90 Prozent aller Maus-Studien kein positives Ergebnis."

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