Artenvielfalt:Im Reich der Roten Riesen

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In Australien gibt es rund zehn Millionen Rote Riesenkängurus. Sie haben beinahe den ganzen Kontinent erobert. Geholfen hat ihnen der Mensch, indem er Wälder rodete. (Foto: DPA-SZ)

Australien ohne Kängurus? Unvorstellbar. Die Beuteltiere gehören einfach zu Down Under. Dabei können vor allem die Roten Riesenkängurus weit mehr als nur große Sprünge machen.

Von Peter Laufmann

Die Show ist ein Knaller, die da im Berliner Varieté "Wintergarten" läuft. Bewegte Bilder! Mit Musik! Am 1. November 1895 führen die Filmpioniere und Brüder Max und Emil Skladanowsky dort zusammengeklebte Filmsequenzen vor. Darunter ein kurzer Clip, in dem ein gewisser Mr. Delaware sich mit einem Känguru kloppt. Das Publikum ist begeistert. Das Tier verpasst dem Mann im Ringeltrikot eine Ohrfeige nach der anderen.

Die sympathische Skurrilität der Kängurus hat damals wie heute die Menschen fasziniert. Denn obwohl sie wirklich vom anderen Ende der Welt kommen, sind die Tiere so bekannt wie sonst nur Eisbär oder Löwe.

Besser passt allerdings: hüpfende Kühe. So ungefähr zumindest. Die großen Kängurus sind in Australien das Pendant zu unseren Rehen, Hirschen - oder eben auch Kühen. Sie haben die ökologische Aufgabe, die Pflanzenwelt in Schach zu halten. Dem Kraut seine Grenzen zu zeigen. Früher war das ein Nischengeschäft, denn es gab mehr Wälder als heute. Doch ungewollt hat der Mensch ihnen in Down Under neue Lebensräume geschaffen, indem er ihre alten zerstörte.

Zugegeben: Das Rote Riesenkänguru hat nicht viel Ähnlichkeit mit einer Kuh. Aber wie sie, frisst es den lieben langen Tag Gras, Kräuter, was sich so ergibt. Beziehungsweise in der Nacht, denn lieber grasen die Kängurus, wenn es dunkel und wenigstens etwas kühler ist. Tagsüber liegen sie gern im Schatten und käuen wieder. Denn Gras ist schwer verdaulich. Damit aus der vegetarischen Herausforderung überhaupt etwas Nahrhaftes abfällt, müssen Kängurus wie auch die Kühe Bakterien in einem mehrkammerigen Magen für sich arbeiten lassen. Und dazu muss der Pflanzenbrei fleißig wiedergekäut werden.

Bei der Vorliebe für die Pflanzenkost hören die Gemeinsamkeiten mit den heimischen Wiederkäuern schon auf. Denn in Australien haben sich die Beuteltiere ein ganz eigenes biologisches Universum geschaffen und die Lebensräume mit Vertretern ihrer systematischen Unterklasse besetzt. Nahezu überall auf der Erde wurden Beuteltiere nämlich von den Höheren Säugetieren, zu denen auch die Kuh und der Mensch zählen, verdrängt.

Von allen rund 50 Känguru-Arten, die in Australien leben, sind die Roten und Grauen Riesenkängurus die größten. Legendär ist ihr Portfolio an Fortbewegungsarten. Üblicherweise hüpfen sie locker vor sich hin, können aber mit ihren fünf Gliedmaßen auch vorwärts gehen. Bei Bedarf können sie bis zu zehn Meter weit oder drei Meter hoch springen. Allerdings machen sie die großen Sprünge nur im Notfall. Selbst an Zäunen bewegen sie sich erst einmal entlang, um zu schauen, ob es nicht doch eine Lücke gibt.

Das Geheimnis ihrer Sprungkraft steckt in ihren muskulösen Beinen und ihrem Schwanz. Ihre äußerst langen und elastischen Sehnen geben ihnen den nötigen Schwung für große Sprünge. Ergänzt wird der Sprungapparat durch eine spezielle Atemtechnik, die an jeden Sprung gekoppelt ist. Sobald sie springen, atmen sie aus - das Füße-nach-vorne-Werfen füllt die Lungen wieder mit frischer Luft. Schnelles Springen verbraucht dadurch nur unwesentlich mehr Energie als langsames.

Doch das sind nur einige der biologischen Kniffe, die sich die Evolution für die Kängurus ausgedacht hat. Da ist zunächst einmal das Känguru als Familientier: Boomer nennt man die Känguru-Männchen, die eine Gruppe führen. Sie haben das Privileg, sich im Gegensatz zu den anderen Männchen paaren zu dürfen. Das tun sie dann im Prinzip ganzjährig, denn die Weibchen können immer einen befruchteten Embryo in Reserve halten. Sobald das Junge mit sieben Monaten den Beutel verlässt, rückt das nächste nach. Im besten Fall haben Känguru-Mütter also drei Kinder: eins als Embryo, eins im Beutel und ein halbwüchsiges, das mitläuft. Diese Art von Fließbandproduktion ist sinnvoll, denn in schlechten Zeiten sterben schon einmal drei Viertel der Kleinen, und in Trockenzeiten verzichten die Kängurus ganz auf Nachwuchs.

Während ihre kleineren Beuteltierverwandten unter den Menschen leiden, profitieren die großen von uns. Die Beutelratten, Baumkängurus und Wallabies brauchen Wälder, die wir roden und werden Opfer von Füchse oder Katzen, die der Mensch nach Australien gebracht hat. Die großen Kängurus hingegen haben schon durch die ersten Siedler auf dem fünften Kontinent Unterstützung bekommen. Bereits die Aborigines brannten den Busch ab. Steppe breitete sich aus - ideal für die Kängurus. Für die Ureinwohner waren die Beutler die bevorzugte Jagdbeute.

Mit der Ankunft der weißen Siedler veränderte sich das über Jahrtausende eingependelte Gleichgewicht zwischen den Bewohnern Australiens. Zuerst vertrieben die Weißen die Aborigines, ermordeten sie oder brachten ihnen Krankheiten und Alkohol. Damit verloren die Kängurus ihren Hauptfeind und konnten sich vermehren. Entgegen kam ihnen auch, dass es nun Schafe gab.

Denn auch, wenn beide typische Wiederkäuer sind: Kängurus kommen besser mit dem Klima Australiens zurecht. Sie brauchen weniger Wasser und sind in der Lage, selbst aus extrem nährstoffarmen Gräsern noch etwas herauszuholen. Schafe brauchen einen viel höheren Eiweißgehalt im Gras, um überhaupt überleben zu können.

Es geht also in den trockenen Steppen um die nackte Existenz. Wenn nun die Weiden nie Gelegenheit haben, sich zu erholen, oder sogar abgebrannt werden, gibt es mit der Zeit einen immer schlechter gedeckten Tisch - für die Schafe! Wenn während einer Dürre die Lämmer und sogar die kleinen Kängurus sterben, haben die Känguru-Mütter schon wieder Ersatz im Beutel, die Schafe nicht. So kommt es, dass Riesenkängurus wohl noch nie so zahlreich waren wie heute. Schätzungen zufolge leben im australischen Outback bis zu zehn Millionen der Roten Riesen.

Einer Legende zufolge haben hatten diie Briten einen Ureinwohner auf Englisch gefragt, was dieses Tier sei. Der antwortete "Känguru", was angeblich heißen sollte: "Ich verstehe nicht. Vermutlich hat Entdecker James Cook 1770 aber einfach die Bezeichnung der Einheimischen für das Graue Känguru, "Gangurru", übernommen. (Foto: dpa)

Manche sprechen bereits von einer Plage. Ein bis eineinhalb Kängurus pro Hektar sollen ökologisch vertretbar sein, oft sind es aber mehr als sechs. So könnten die Tiere das Gleichgewicht stören und zur weiteren Verwüstung beitragen. Abhilfe soll der Abschuss schaffen. 2010 waren 480   000 der Roten Riesenkängurus zur Tötung freigegeben. Befürworter der Jagd preisen Kängurus als gute Alternative zu Rind an - nicht zuletzt, weil sie, anders als Kühe, kein klimaschädliches Methangas erzeugen.

Vielleicht hätten Tierschützer mit der Känguru-Jagd weniger Probleme, wenn sie nicht mit ungleichen Mitteln ausgefochten würde. Träte der Mensch den Tieren wie im Film der Skladanowskys mit blanken Fäusten gegenüber, so zöge er mit Sicherheit den Kürzeren. Kängurus sind es nämlich gewohnt, sich zu prügeln. Die Männchen halten bei ihren Streitereien über Macht und Paarungsrechte den anderen mit ihren kurzen Ärmchen auf Distanz, um dann blitzartig mit den Beinen zuzustoßen. Dabei stützen sie sich auf ihren Schwanz und versetzen dem Angreifer einen Tritt, den er nicht vergisst - sofern er ihn überlebt. Warum in Gottes Namen haben sich dann Menschen überhaupt auf den Zweikampf eingelassen? Ganz einfach: Den Tieren wurde nicht das Boxen angewöhnt, sondern in mühsamer Dressurarbeit das Treten abtrainiert.

Der Text stammt aus der August-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation - mehr aktuelle Themen aus dem Heft 8/2013 auf natur.de...

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