Zu Obamas Amtsantritt:Warum es Zeit für einen "Atlantischen Binnenmarkt" ist

Amerika und Europa haben unter US-Präsident Obama ihr Verhältnis verbessert. Sie sind füreinander die wichtigsten Handelspartner, wodurch Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Ein Atlantischer Binnenmarkt wäre jetzt ein starkes wirtschaftliches und politisches Signal.

Ein Gastbeitrag von Guido Westerwelle

Am Sonntag tritt US-Präsident Barack Obama seine zweite Amtszeit an. Das europäisch-amerikanische Verhältnis ist besser, die Abstimmung und Zusammenarbeit noch enger geworden in den letzten vier Jahren. Dennoch sind Europa und die USA angesichts drängender Reformen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik introvertierter, als es uns angesichts einer sich rasant verändernden Welt guttut.

Die beiden größten und wohlhabendsten Wirtschaftsräume der Welt sind auf der Suche nach dem richtigen Ansatz staatlicher Regulierung, um die notwendigen Lehren aus der Immobilien-, Schulden- und Bankenkrise zu ziehen, die unser Wirtschaftsmodell erschüttert hat. Zugleich suchen wir auf beiden Seiten des Atlantiks nach Wachstumsimpulsen, die neue Arbeitsplätze schaffen. Es ist Zeit, dass wir uns auf das besinnen, was uns verbindet und enormes zusätzliches Potenzial bietet: die engste Verflechtung von Handelsräumen und Investitionsstandorten weltweit.

In wenigen Tagen wird die "hochrangige Transatlantische Arbeitsgruppe für Wachstum und Jobs" ihren Bericht vorlegen. Sie hat das enge transatlantische Netzwerk auf zusätzliche Wachstumschancen untersucht. Es wäre eine große Überraschung, wenn sie nicht mit Nachdruck empfehlen würde, jetzt einen mutigen, ambitionierten Schritt zu tun, um beide Wirtschaftsräume noch weiter zu öffnen und stärker zu integrieren.

Die wirtschaftlichen Gründe liegen auf der Hand. Der atlantische Raum stellt alle anderen Wirtschaftsräume in den Schatten. Gemeinsam erwirtschaften wir fast die Hälfte des Weltsozialprodukts. Der amerikanisch-europäische Warenaustausch erreichte 2011 einen Wert von über 500 Milliarden Euro. Beide sind wir füreinander der wichtigste Handelspartner. Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Auslandsinvestitionen gehen nach Europa, auch heute noch. Umgekehrt betragen die europäischen Investitionen in den USA das Achtfache unserer Investitionen in China und Indien zusammen. Millionen Arbeitsplätze auf beiden Seiten sind durch diese wechselseitige Verflechtung geschaffen worden.

Warum sollten wir diese Substanz nicht für einen Quantensprung zu einem Atlantischen Binnenmarkt nutzen? Einem Markt, der auch bei Dienstleistungen, Finanzdienstleistungen und im öffentlichen Beschaffungswesen auf größere Öffnung setzt? Auch wenn es nicht leicht ist, die möglichen Wohlstandsgewinne präzise zu berechnen, dürften sie in jedem Fall im dreistelligen Milliardenbereich liegen.

Selbstbehauptung in der Globalisierung

Es mag technisch klingen, geht es doch auch um Normen, Standards und Regulierungsfragen. Mit ihnen entscheiden sich die Marktchancen vieler guter Erfindungen und Produkte. Über den Atlantik haben wir gemeinsam das Know-how und das Gewicht, um weltweit akzeptierte Maßstäbe zu setzen. Wir wollen, dass die Normen und Standards von morgen von uns und bei uns gesetzt werden, von der Elektromobilität bis zum Schutz geistigen Eigentums. Auch unsere im Vergleich hohen Sozial- und Umweltstandards könnten Maßstab werden für künftige Wirtschaftsabkommen mit dem Rest der Welt.

Ein transatlantisches Abkommen hat aber weit mehr als nur wirtschaftliches Potenzial. Es wäre ein starkes politisches Signal für die Gestaltungskraft des Westens. Es würde Maßstäbe setzen für eine offene Wirtschaftsordnung, wie wir sie weltweit erhalten und ausbauen wollen. Ein solches Abkommen könnte zum Vorbild für viele Folgevereinbarungen werden, von Vancouver bis Wladiwostok und von Paris bis Peking. Es würde auch unserer engen Sicherheitspartnerschaft in der NATO und unserer Zusammenarbeit in praktisch allen wichtigen außenpolitischen Fragen zusätzlichen Schub geben.

Warum gerade jetzt, da uns ähnliche Vorstöße in der Vergangenheit nicht gelungen sind? Die Antwort ist einfach. Das Fenster der Gelegenheit steht weit offen. Die wirtschaftlichen Vernunftgründe sind seit Langem gründlich analysiert. Jetzt kommen drei wichtige Faktoren hinzu. Auf beiden Seiten des Atlantiks brauchen wir kräftige Impulse, um Wirtschaft und Politik aufzurütteln. Die politischen Sterne stehen günstig, um den erforderlichen Rückenwind zu mobilisieren: der Beginn der neuen Obama-Administration ebenso wie die irische EU- und die britische G-8-Präsidentschaft zu Beginn dieses Jahres.

Schließlich ist uns allen in den Jahren seit Ausbruch der Finanzkrise bewusst geworden, wie rasant der Aufstieg Chinas und anderer Gestaltungsmächte die Welt verändert. Wenn es uns gelingt, über den Atlantik unsere wirtschaftlichen und kreativen Kräfte zu bündeln, dann können wir der entstehenden multipolaren Welt einen Stempel aufdrücken, der unsere Interessen wahrt und fest in unseren gemeinsamen Werten verankert ist.

Ich wünsche mir, dass der Europäische Rat schon auf seiner Tagung im Februar ein entschlossenes politisches Signal für ein ambitioniertes Abkommen aussendet. Ein entsprechend umfassendes Mandat kann dann unter irischer EU-Präsidentschaft noch vor dem Sommer verabschiedet werden und den Weg zu konkreten Verhandlungen ebnen. Entscheidend für die Erfolgschancen ist es, dass wir in ganz Europa den überragenden wirtschaftlichen, politischen und strategischen Nutzen eines Abkommens fest im Blick behalten und so die unweigerlich auftretenden Hürden und Hindernisse überwinden. Dafür braucht es politischen Willen auf beiden Seiten des Atlantiks und eine möglichst breite Allianz von Unterstützern. Dieses Bündnis muss jetzt geschmiedet werden.

Wir haben die große Chance, aus der Introvertiertheit der letzten Jahre und aus der Verunsicherung auszubrechen, und uns auf unsere enormen Stärken beiderseits des Atlantiks zu besinnen. Unsere Gesellschaften bringen die klügsten Köpfe hervor, sie produzieren die kreativsten Ideen, sie bieten die besten Chancen für die volle Entfaltung des Potenzials eines jeden Einzelnen.

Jetzt ist die Zeit reif für einen Atlantischen Binnenmarkt. Zum gegenseitigen Nutzen, aber auch im Sinne einer liberalen internationalen Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Anfang nahm und uns ungeahnten Wohlstand geschaffen hat. Dieses Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Ein umfassendes transatlantisches Abkommen wäre ein überzeugendes Signal für die Selbstbehauptung Europas und Amerikas in der Globalisierung und für unsere Entschlossenheit, unsere Zukunft nach unseren eigenen Maßstäben zu gestalten.

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