Wohlstands-Index statt BIP:Die alte Mär vom Mehr

Reich und glücklich - das ist nicht identisch. Deshalb wird es Zeit, für den Wohlstand von Nationen ein geeignetes Maß zu finden.

Michael Kläsgen, Paris

Der Vorschlag, den Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy am Montag in der Pariser Sorbonne-Universität machte, ist nicht neu. Aber noch nie hat er so große Chancen gehabt, eine internationale Debatte anzustoßen und vielleicht sogar eines Tages umgesetzt zu werden. Es geht darum, einen neuen Gradmesser für den Wohlstand zu finden.

Kleeblatt, ddp

Wie wichtig ist Glück? Wachstum allein reicht nicht aus, um die Bevölkerung zufriedener zu machen.

(Foto: Foto: ddp)

Bisher ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) das einzige weltweit anerkannte Messinstrument. Per Definition addiert es alle produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum.

Ob das Wachstum jeden Einzelnen auch wohlhabender oder zufriedener macht und die Natur schont, misst das BIP nicht. So wirken sich beispielsweise Reinigungsarbeiten, die eine Öltanker-Katastrophe notwendig macht, positiv auf das BIP aus. In dem Fall gibt es ein Wachstum, das niemand befürworten kann.

Sarkozy will das BIP daher ersetzen. Namhafte Ökonomen wie die Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen unterstützen ihn dabei. Sie leiteten in seinem Auftrag 18 Monate lang eine hochkarätige 22-köpfige Kommission und legten nun ihren 191 Seiten langen Bericht vor (www.ofce.sciences-po.fr).

Es ist schwer, den Wert von Freizeit zu messen

Darin machen sie zwölf Vorschläge. Sie empfehlen, Daten statt aus der Vogelperspektive, aus der Sicht von Privat-Haushalten zu erheben. Denn, wie ein Kommissionsmitglied sagte, wenn der Milliardär Bill Gates in eine Kneipe kommt, erhöht sich zwar statistisch gesehen sprungartig das Durchschnittseinkommen an der Theke, aber keiner hat dadurch mehr Geld in der Tasche.

Die Kommission rät daher, Daten darüber zu erheben, wie viel Bier sich jeder einzelne leisten kann, und nicht nur die produzierte Biermenge zu zählen. Es geht also darum, Einkommen und Konsum gegenüber der rein quantitativen Produktion aufzuwerten. Wie das Vermögen verteilt ist, wollen die Wissenschaftler auch stärker berücksichtigen. In die Daten sollen zudem ehrenamtliche Arbeit und Heimarbeit einfließen, also Tätigkeiten, die den Lebensstandard heben, auch wenn "der Markt" nichts davon erfährt.

Zum Wohlergehen jedes Einzelnen zählt die Kommission natürlich auch die Gesundheitsversorgung, die Lebenserwartung, Freizeitmöglichkeiten, den Zugang zu Bildung und die Freiheit, sich politisch zu engagieren.

Diesbezüglich vergleichbare Daten zu erheben, dürfte allerdings schwierig werden, dessen sind sich Stiglitz und Sen bewusst. Zudem muss man sich fragen: Wie will man den Wert der Freizeit messen? An der Anzahl von Museumsbesuchen wird man weder das Wohlbefinden Einzelner noch den Wohlstand einer Nation ableiten können. Leichter messen lässt sich hingegen, inwieweit das Wachstum die Umwelt schützt oder gefährdet.

Das Bild vom glücklichen Armen

Wildpferde an der Emscher

Noch gibt es den Stiglitz-Indikator nicht, aber schon jetzt ist absehbar, dass China gemessen an diesen Kriterien zurückfallen dürfte.

Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Wunsch nach einem neuen Wachstumsmesser zur Antwort der saturierten Wohlstandsnationen auf die uneinholbaren BIP-Zahlen der Volksrepublik werden könnte.

Doch wäre das gerechtfertigt? Hätte man den Steinkohleabbau im Ruhrgebiet vor 150 Jahren aus Gründen der Nachhaltigkeit abgeblasen, würden womöglich heute noch an der Emscher Wildpferde springen - aber wäre Deutschland ähnlich reich?

Andererseits war es der Vertreter einer aufstrebenden Nation, der Inder Amartya Sen, der schon 1990 den Human Development Index entwickelte, den die Vereinten Nationen regelmäßig veröffentlichen. Dort liegen Staaten an der Spitze, die auch für ihre weitgehend unversehrte Natur bekannt sind: Norwegen, Kanada, Australien und auch Island (vor der Krise).

Der Bettler ist glücklicher als der König

Welche Art von Wachstum sollten Volkswirtschaften also anstreben? Was macht ihre Einwohner zufrieden? Die "Glücksforschung", wenn man sie so nennen will, gibt darauf keine eindeutige Antwort. Sie ist eine in den Wirtschaftswissenschaften unterbelichtete und noch junge Disziplin.

Das ist insofern verwunderlich, als ausgerechnet Adam Smith, Autor von "Der Wohlstand der Nationen" und Urvater des freien Markts, schon differenzierte. Er stellte Mitte des 18. Jahrhunderts sinngemäß fest, dass der Bettler am Straßenrand in der wärmenden Sonne zufriedener sei, "was das körperliche Wohlbefinden und den Seelenfrieden" anbetrifft, als der König, der um seine Sicherheit fürchtet.

Seit 1974, könnte man meinen, hat die Wissenschaft kaum neue Erkenntnisse hinzugewonnen. Denn in jenem Jahr ergab die World Database of Happiness, dass der Durchschnitts-Brasilianer sehr viel zufriedener sei als der Durchschnitts-Japaner, und zwar trotz eines wesentlich geringeren Einkommens.

Doch in den folgenden Jahren korrigierte eine Vielzahl von neuen Wohlfühl-Indikatoren das Bild vom glücklichen Armen. Sie alle stimmen zumindest darin überein, dass Wachstum allein nicht ausreiche, um die Bevölkerung zufriedener zu machen. Keiner der Indikatoren schaffte es jedoch bis zur internationalen Akzeptanz. Dank Stiglitz und Frankreich erhält die Forderung nun erstmals weltweite Aufmerksamkeit.

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