Wohin mit den Taschen?:Kampfzone Kabine

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Großes Gedrängel an Bord: Flugpassagiere kämpfen mit vollgestopften Gepäckablagen. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Was gilt im engen Flugzeug noch als Handgepäck? Der Luftfahrtverband IATA wollte die Regeln dafür verschärfen. Nun macht er einen Rückzieher.

Von Michael Kuntz, München

Das Fliegen ist nicht mehr die distinguierte Form der Fortbewegung, die es mal war. Das Flugzeug ist ein Massenverkehrsmittel, mit Vorteilen und Nachteilen. Die sind bereits beim Einsteigen erlebbar: Kaum an Bord, beginnt auf gutfrequentierten Verbindungen der Kampf um den knappen Platz in den Gepäckfächern über den Sitzen. Wer als einer der letzten Passagiere in die Kabine kommt, steht dann oft im Gang mit seinem Handgepäck - ratlos.

Das Problem besteht, wenn auch nicht immer und überall. Bei einer Umfrage des Reiseportals Tripadvisor beklagte sich ein knappes Drittel der Fluggäste über Verspätungen. Mehr als die Hälfte aber findet es unmöglich, das eigene Gepäck mit erlaubten Abmessungen neben prall gefüllten Handtaschen und Rucksäcken von Mitreisenden verstauen zu müssen.

Besonders gravierend ist die Lage in Nordamerika. Dort mutierte manche Flugzeugkabine zur Kampfzone, nachdem die Airlines Mitte 2009 begannen, besonders günstige Tickets zu verkaufen - bei denen aufgegebenes Gepäck nicht mehr im Flugpreis enthalten ist. Fortan kostete jeder Koffer extra und jeder versucht, möglichst viele Habseligkeiten als Handgepäck über und unter den Sitzen des Flugzeuges zu verstauen.

Im Vorteil ist dabei, wer möglichst früh ins Flugzeug stürmt. "Gate lice" werden seitdem auf Amerikas Airports jene Drängler genannt, die als "Pforten-Läuse" bereits bei der Abfertigung im Terminal in der Schlange nach vorne streben, um ungehindert ihr Handgepäck in noch leere Fächer einlagern zu können.

Diesem Treiben wollte nun der Internationale Luftfahrtverband IATA ein Ende bereiten. Bei seiner Jahrestagung in Miami startete er eine Initiative, die Platz fürs Handgepäck garantieren soll. Danach sollen erlaubte Kabinenkoffer nur noch 55x35x20 Zentimeter messen statt wie bisher 55x45x25 Zentimeter.

Diese Verringerung des Volumens um fast vierzig Prozent löste vor allem in Nordamerika einen solchen Proteststurm aus, dass die IATA ihre Empfehlung jetzt nach einer Woche wieder zurückzieht. Sie kündigt eine umfassende Neubewertung des Problems Handgepäck an. "Dies ist eindeutig ein Thema, das Reisende sehr nahegeht", erklärte IATA-Präsident Tom Windmuller, im früheren Berufsleben als amerikanischer Diplomat für den Luftverkehr zwischen den USA und Europa zuständig.

Seinen Reinfall als Handgepäck-Diplomat erlebte Windmuller, obwohl der IATA als Weltluftfahrtorganisation 250 Gesellschaften angehören, die mehr als 90 Prozent aller internationalen Flüge anbieten. Beim Thema Handgepäck macht nun jede Airline, was sie für richtig hält - so wie bisher. Den Spuk um die Barbaren unter den Passagieren, die im letzten Moment vor dem Abheben noch ein Hartgepäckstück in die Tüten und Taschen, Jacken und Mäntel ihrer Mitreisenden pressen, den wollten dieses Mal vor allem amerikanische Fluggesellschaften beenden.

Doch nicht nur die CDU-Verbraucherpolitiker Elisabeth Winkelmeier-Becker und Stefan Heck argwöhnten bereits, die IATA-Initiative erfolge vor allem aus geschäftlichem Interesse: "Schon heute berechnen zahlreiche Airlines bei der Buchung oder Durchführung von Reisen zusätzliche Gebühren für Dienstleistungen, die untrennbar mit dem Personentransport verbunden sind. Die Verringerung des Handgepäcks bei gleichbleibendem Ticketpreis würde dieses intransparente Gebührensystem zusätzlich befeuern."

Die Politiker kritisieren damit den jüngsten Trend in der Luftfahrtindustrie. Die Airlines allerdings halten niedrige Grundpreise plus Aufschläge bis an die individuelle Schmerzgrenze eines Passagiers für besonders transparent. Aufgegebenes Übergepäck kostet schon extra, warum also sollte nicht am übergroßen Handgepäck zu verdienen sein? Man erhält, wofür man bezahlt, lautet der Grundsatz für eine Preispolitik, die nicht zuletzt vom Internet ausgelöst wurde. Auf den Vergleichsportalen landen auf den vordersten Plätzen die niedrigsten Preise. Unterschiede bei der Leistung werden oft unzureichend abgebildet.

Diesem Diktat der Portale kann sich kaum noch eine Airline entziehen. Air Berlin verkauft seit Mai abgespeckt No-Frill-Tickets, die Lufthansa kündigt einen Light-Tarif für Oktober an. Dann drohen amerikanische Verhältnisse auch in den Kabinen deutscher Airlines, befürchten Vielflieger.

Vorerst begnügt sich die Lufthansa mit Aufklebern über den vorderen Sitzreihen, die verhindern sollen, dass Billigflieger ihr Handgepäck bereits ins erste freie Gepäckfach werfen und so den Business-Kunden ihren teuer bezahlten Extraraum wegnehmen. Wenn es voll wird, fordert die Crew dazu auf, schweres Handgepäck möglichst unter dem Vordersitz zu verstauen.

Inlandsflüge haben oft einen Zeitvorteil. Es sei denn, man muss lange aufs Gepäck warten

Die Stewardessen und Stewards übrigens finden die IATA-Initiative gut. Es sei beim Öffnen der Gepäckfächer oder bei Turbulenzen schon zu ernsthaften Verletzungen gekommen, wenn Gepäckstücke herausfielen, erklärte ihre Gewerkschaft Ufo. Auch werde der Einsteigevorgang verzögert, wenn zu viel Gepäck in der Kabine verstaut werden müsse. Doch noch herrscht Ellenbogenfreiheit und sieht sich der Rücksichtslose mit seinem Riesen-Trolley in seinem Verhalten bestätigt, vor allem in den gutgebuchten Linienmaschinen im Inland. Denn die Kontrollen von Größe und Gewicht des Handgepäcks handhabt die Lufthansa hier eher großzügig, berichten Reisende.

Wie es auch ginge, weiß die Lufthansa durchaus: Auf innereuropäischen Regionalflügen mit kleinen Maschinen gilt eine vierfache Kontrolle des Handgepäcks: Beim Check-in, am Gate, beim Verlassen des Vorfeld-Busses und am Eingang des Flugzeuges. Überall ist damit zu rechnen, übergroßes Handgepäck noch abgeben zu müssen. Es reist dann im Frachtraum.

Großzügig beim Handgepäck auf Inlandsflügen ist man wohl nicht ohne Grund: Bei Inlandsflügen schrumpft der Zeitvorteil des Fliegens gegenüber dem Bahnfahren dramatisch, wenn zu den Zeiten für Anreise, Einchecken, das bei großen Maschinen ewig dauernde Einsteigen, den Flug und die Fahrt in die Stadt auch noch eine halbe Stunde Wartezeit am Gepäckband dazukommt, was vielleicht nicht die Regel ist, aber auch nicht völlig unwahrscheinlich ist.

Wer so etwas als Flugpassagier häufiger erlebt, der reist beim nächsten Mal lieber mit der Bahn - oder er wird zur "Gate lice".

© SZ vom 19.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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