Wirtschaftspolitik:Prinzipientreue bei Merkel? Muss nicht sein

  • Angela Merkel hält einen mit Spannung erwarteten Vortrag zum 125. Geburtstag von Walter Eucken.
  • Eucken ist der Begründer der Ordnungspolitik. Das Prinzip dahinter: Gebt dem Wirtschaftssystem Regeln und eine Ordnung, aber lasst den Markt innerhalb dieser Regeln sich frei entwickeln.

Von Marc Beise

Ihr Vizekanzler von der SPD, Sigmar Gabriel, war schon da, im vergangenen Sommer, und davor Bundespräsident Joachim Gauck - jetzt wollte die Chefin selbst kommen: Angela Merkel hatte sich für Mittwochabend bei den Wirtschaftswissenschaftlern des Walter-Eucken-Instituts in Freiburg angekündigt, und natürlich wurde von ihr eine ordnungspolitische Grundsatzrede erwartet.

Nicht im ehemaligen Wohnhaus Euckens, wo das kleine Institut residiert, sondern im Konzerthaus von Freiburg versammelten sich 1300 Gäste, bestes Freiburger Bürgertum. Der Oberbürgermeister hatte dafür eigens den Neujahrsempfang verschoben. Passgenau zum Tag hatte die Kanzlerin einen Haushaltsüberschuss zu verbuchen, wie ihn das Land fast seit Menschengedenken nicht erlebt hatte. Immerhin 12,1 Milliarden Euro hat der Bund 2015 mehr eingenommen als ausgegeben, bei einem Etat von rund 300 Milliarden Euro ist das ganz ordentlich und jedenfalls eine andere Dimension als in den vergangenen Jahrzehnten, da der Staat fast immer mehr und mehr ausgegeben als eingenommen hat.

Das Plus im Haushalt ist doppelt so hoch wie für 2015 geplant: Über dessen Verwendung hätte die Kanzlerin reden können oder sogar darüber, ob der Staat so viel Geld eigentlich braucht - tat sie aber nicht, sondern beließ es bei der üblichen Würdigung eines der Väter der sozialen Marktwirtschaft. Walter Eucken, der 1950 gestorbene deutsche Ökonom, hat grundsätzlich gedacht und gelehrt. Er gilt als maßgeblicher Vater der Ordnungspolitik oder des Ordo-Liberalismus; Begriffe, die man schwer erklären oder gar in die Weltsprache Englisch übersetzen kann, die aber ungefähr bedeuten: Gebt dem Wirtschaftssystem Regeln und eine Ordnung, aber lasst den Markt innerhalb dieser Regeln sich frei entwickeln. Oder anders gesagt: So viel Staat wie nötig, so viel Markt wie möglich. Das klingt trivial, ist es aber nicht, was man daran sieht, dass heute der Staat vielfach häufiger als früher ins Wirtschaftsgeschehen eingreift und sich dazu bei den Leistungsträgern der Gesellschaft über Steuern und Abgaben und Gebühren weit mehr als die Hälfte deren Geldes besorgt.

Merkel besucht Siemens in Amberg

Die Kanzlerin sucht die Nähe der Wirtschaft, hier ganz in Blau bei einem Besuch des Siemens-Werks im bayerischen Amberg.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Der Sozialdemokrat Gabriel und der Pfarrer Gauck hatten ihre Auftritte in Freiburg dazu genutzt, sich in die Tradition Euckens und seines geistigen Erben Ludwig Erhard zu stellen und für mehr Marktwirtschaft zu plädieren, als dies jedenfalls die SPD in der Praxis so lebt. Aber war Ludwig Erhard nicht Wirtschaftsminister und Bundeskanzler der CDU? Ist nicht eigentlich die CDU-Vorsitzende Angela Merkel der natürliche Erhard- und Eucken-Erbe? Sollte man meinen; nur interessanterweise kommt auf die Idee kaum jemand. Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Lars Feld, der als Direktor des Eucken-Instituts den 125. Geburtstag des Altmeisters würdigte, hat als Mitglied der "Fünf Weisen" seine bitteren Erfahrungen mit der Kanzlerin gemacht, die schon mal erkennbar ihre Geringschätzung für die ordnungspolitischen Ratschläge der Sachverständigen öffentlich zu Protokoll gibt.

Die Zeiten waren günstig, doch ordnungspolitische Reformen gab es nicht

Wirtschaftspolitik: SZ-Grafik: Unterhitzenberger; Quelle: Bundesministerium der Finanzen

SZ-Grafik: Unterhitzenberger; Quelle: Bundesministerium der Finanzen

Auch wenn Gastgeber Feld Merkels Rede anschließend als "grandios und richtungsweisend" lobte, hatte die Festrednerin bei Lichte besehen doch wenig getan, den unter Ökonomen vorherrschenden Eindruck zu widerlegen, dass ihr wirtschaftspolitische Prinzipien ziemlich gleichgültig sind. "Im Großen und Ganzen", befand Merkel, habe sie sich bei allen Herausforderungen von Bankenrettung bis zu den Euro-Rettungsprogrammen an Euckens Vorgaben orientiert, wenn es auch in der Praxis immer wieder Abweichungen gebe, die diejenigen beklagen könnten, die die reine Lehre verfolgten.

Roter Faden reicht

Von Prinzipientreue im konkreten politischen Geschäft hält Merkel erkennbar wenig, ihr reicht es, wenn der "Eucken'sche rote Faden" erkennbar ist. Im übrigen stünde man vor großen neuen Herausforderungen, von den Flüchtlingsfragen über Handels- und Energiethemen bis hin zur Digitalisierung, die man nicht mehr national lösen könne, sondern nur im europäischen oder gar internationalen Rahmen. Wie das ordnungspolitisch zu bewerkstelligen sei, darüber würde sich Angela Merkel "gerne mal mit Walter Eucken unterhalten, wenn er denn noch lebte". Ersatzweise empfahl sie den Eucken-Wissenschaftlern etwas spitz, dazu mal Forschungsprojekte aufzusetzen. Sagte es, dankte und war nach einer halben Stunde schon wieder runter von der Bühne. Der Alltag ruft, demnächst wartet das Gespräch mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, auch einem erklärten Helden des Alltags.

Manche erinnern sich, dass die CDU-Politikerin Merkel einmal anders begonnen hatte. Als Nachwuchspolitikerin aus dem Osten und später als Oppositionsführerin hatte sie sich wiederholt und vehement auf Ludwig Erhard und die Ordoliberalen berufen und mehr Freiheiten in der Marktwirtschaft gefordert. Dass man so allerdings meistens keine Wahlen gewinnt, weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr Freiheit, sondern mehr soziale Sicherheit will, musste sie im Wahlkampf 2005 gegen Gerhard Schröder erkennen, als sie den schon sicher geglaubten Sieg beinahe noch verspielte. Seitdem, sagen Menschen, die ihr nahe sind oder waren, sind Prinzipien so ziemlich das Letzte, worauf sie ihre Politik stützt. Wenn der aktuelle Koalitionspartner SPD Lieblingsthemen hat, auf denen er besteht, dann winkt Merkel die durch, sei es die Rente mit 63, der Mindestlohn oder eine Mietpreisbremse; ob das "ordnungspolitisch sauber" ist oder nicht, ist Merkel dann egal - und selbstredend war es auch kein Thema in Freiburg.

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