Wirtschaftsmacht China:Werkbank der Welt

Atemberaubendes Wirtschaftswachstum in Peking, Katzenjammer in Washington - gewinnt der autoritäre Kapitalismus den Krieg der Systeme?

Henrik Bork

In Peking werden Dissidenten verhaftet, aber moderne Hochhäuser wachsen so schnell aus dem Boden wie Bambus im Frühlingsregen. In Moskau stehen kritische Journalisten mit einem Bein im Grab, aber die Petrodollars lassen die Skyline glitzern.

Wirtschaftsmacht China: Unbürokratisch schnell hochgezogen: Das neue CCTV-Hochhaus des chinesischen Rundfunks in Peking.

Unbürokratisch schnell hochgezogen: Das neue CCTV-Hochhaus des chinesischen Rundfunks in Peking.

(Foto: Foto: AFP)

Gleichzeitig wird der Kapitalismus in den USA und in Europa nicht nur von einer Finanz-, sondern auch von einer Sinnkrise gebeutelt. Ist es also an der Zeit, die Systemfrage zu stellen? Ist die Kombination aus Demokratie und Kapitalismus ein Auslaufmodell, während dem autokratischen Kapitalismus à la China oder Russland die Zukunft gehört?

Zumindest die Kommunisten in China, das war nicht anders zu erwarten, beantworten diese Frage derzeit aus vollem Herzen mit Ja. "Die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems hat sich in der gegenwärtigen Weltfinanzkrise bewiesen", schreibt die aktuelle Ausgabe der Volkstribüne, Renmin Luntan, ein Ableger der parteieigenen Volkszeitung. Der westliche Kapitalismus, laut Marx und Mao eine zum Scheitern verurteilte Sackgasse, scheint endlich vor dem lange vorausgesagten Aus zu stehen.

Prestigeprojekte in atemberaubender Geschwindigkeit

Doch nicht nur die übliche Propaganda, auch der Augenschein scheint dem chinesischen Modell aus politischer Repression und staatlich gelenktem Turbokapitalismus derzeit zumindest wirtschaftlich recht zu geben - lässt man moralische Fragen ausnahmsweise einmal außen vor.

Man muss die glänzenden Augen europäischer Politiker und der sie begleitenden Reporter gesehen haben, wenn sie das erste Mal Peking oder Shanghai besuchen. Von "Dynamik", von "komplettem Wahnsinn" ist da oft die Rede, wenn die Buskolonnen mit den staunenden Gästen durch die neuen Megastädte rollen.

Und Architekten aus Deutschland, der Schweiz, aus Holland oder England berichten stolz, wie unbürokratisch schnell sie ihre CCTV-Hochhäuser, ihre Vogelnester, Opernhäuser oder Flughäfen in China "hochziehen" konnten.

Ungetrübt von langwierigen Genehmigungsverfahren in demokratischen Gesellschaften können in Ländern wie China und Russland viele Prestigeobjekte mit atemberaubender Geschwindigkeit realisiert werden, natürlich zur Ehre ihrer Herrscher, aber durchaus auch im Interesse des Wachstums und des Gemeinwohls.

Der neue, von Sir Norman Foster entworfene Terminal drei des Pekinger Flughafens, der größte der Welt, ist in nur vier Jahren aus dem Boden gestampft worden. So lange hatten in London Heathrow zuvor allein die Konsultationen mit der Öffentlichkeit gedauert.

Wirtschaftsleistung geradezu explodiert

Auch nackte Zahlen und Statistiken scheinen sich zu einem eindrucksvollen Plädoyer für Chinas "sozialistische Marktwirtschaft" oder ähnlich dirigistische, mit starker Hand von einer Macht-elite geführte Volkswirtschaften zu addieren.

Seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings, also nach 1978, ist Chinas Wirtschaftsleistung geradezu explodiert, zuletzt seit 2003 mit jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von über zehn Prozent. Und selbst jetzt, wo die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise auch in China auf den Exportsektor durchschlägt, ist noch von Wachstumsraten um acht Prozent die Rede, auch wenn das erst noch abgewartet werden muss.

Chinas wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist zweifellos ein großer Erfolg. Eine ähnlich lange Phase schnellen Wachstums hat es allerdings auch schon einmal in einem demokratischen Land gegeben, im Nachkriegs-Japan der Jahre 1955 bis 1973 mit einem durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstum pro Kopf von über acht Prozent.

Selbst wenn die damals pausenlose Herrschaft der japanischen Liberaldemokratischen Partei und die Verflechtung aus Wirtschaftsbürokratie und mächtigen "Keiretsu"-Konglomeraten oft ironisch als eine andere Art von Staatssozialismus belächelt wird: Von der An- oder Abwesenheit der Demokratie scheint schnelles Wachstum in Asien jedenfalls nicht abhängig zu sein.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, welche Parallelen die Phasen wirtschaftlichen Wachstums in Japan und China aufweisen

Werkbank der Welt

Die Folgerung, der gegenwärtige wirtschaftliche Erfolg in China oder Russland sei vor allem durch eine mächtige, ungehinderte Regierung ermöglicht, eine Art modernem "Leviathan" aus den kühnsten Träumen eines Thomas Hobbes, ist ein ideologischer Kurzschluss. Eine nüchterne Analyse fördert vielmehr Ähnlichkeiten zwischen der japanischen und chinesischen Wachstumsphase zu Tage, die mit der fehlenden, unvollkommenen oder perfekten Legitimation der Volksvertreter nicht viel zu tun haben.

In beiden Fällen begann das Wachstum in völlig am Boden liegenden Ländern. Im von zwei Atombomben und Flächenbombardierungen ausradierten Japan und in der von Maos "Großem Sprung" mit 30 Millionen Hungertoten verwüsteten Volksrepublik.

Und in beiden Fällen erfolgte eine lange Phase hoher staatlicher Investitionen. In Japan etwa machten Bruttoanlageinvestitionen am Anfang der siebziger Jahre, in den letzten Jahren des ganz großen Booms, jährlich 35 bis 37 Prozent aus.

Kluge Wirtschaftspolitik statt Sozialismus

Mit ähnlichem Tempo werden heute auch in China Autobahnen, Staudämme, Straßen und Häuser gebaut. In den neunziger Jahren lagen diese Investitionen jährlich bei etwa 35 Prozent, seit 2004 sind sie auf über 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gewachsen. Natürlich können Investitionen für sich allein genommen das Wachstum nicht erklären, doch diese Parallelen sind sehr auffällig.

Für solche Aufbauleistungen ist neben dem Fleiß der Menschen die wirtschaftspolitische Grundsatzentscheidung erforderlich, einer armen, nach Wohlstand hungernden Bevölkerung langfristig eine solide wirtschaftliche Grundlage zu sichern.

Das ist kluge Wirtschaftspolitik, mit Sozialismus aber hat sie nicht das geringste zu tun, zumal sie auch im demokratischen Japan möglich war, und später, in bescheidenerem Ausmaß, auch in Taiwan und Südkorea (nicht zufällig ebenfalls ostasiatischen Ländern mit hoher Sparquote). China mag das Schießpulver entdeckt haben, das Rad haben die Kommunisten in Fernost nicht neu erfunden.

Zu den Hochzeiten des japanischen Booms schossen die Prophezeiungen ins Kraut, das kommende Jahrhundert gehöre Japan, Nippon werde bald die Welt regieren.

Ähnlich wie heute im Fall Chinas nehmen die Zukunftsforscher gerne die Wachstumszahlen der zurückliegenden Jahre und rechnen sie für die Zukunft hoch. Das geht meist schief. Ohne Chinas große historische Aufbauleistung kleinzureden - auch hier könnte sich nach Ablauf weiterer Jahre hohen Wachstums allmählich jener Mechanismus in Gang setzen, der auch die Boomphasen in Japan, Südkorea und Taiwan irgendwann hat ausklingen lassen: das Wachstum der Löhne, ein Ende der raschen Urbanisierung und eine fortschreitende Relativierung der Staatsinvestitionen im Vergleich zur Gesamtwirtschaft.

Ist das Wachstum nachhaltig?

Irgendwann, vielleicht nach einem weiteren Jahrzehnt, vielleicht eher oder später, wenn die große Bonanza der Betonmischer auch in China vorbei sein wird, wird sich eine neue Frage stellen: Ist das Wachstum nachhaltig? "Langfristiges Wachstum ist sicherlich eine gute Sache", schreibt der Wirtschaftsprofessor und Chinaexperte Barry Naughton von der Universität von Kalifornien in San Diego, "aber daraus folgt nicht, dass maximales Wachstum in kürzester Zeit immer wünschenswert ist."

Es wäre ähnlich ideologisierend wie die Argumentation der Volkstribüne, den Chinesen nachzuweisen, dass ihr Wachstum erst dann richtig abgehoben hat, als sie den Kapitalismus nachzuahmen begannen.

Lesen Sie auf der dritten Seite, welche Auswirkungen die Resourcenverknappung und der Klimawandel auf die aufstrebende Wirtschaftsmacht China haben.

Werkbank der Welt

Es ist heutzutage nicht mehr ganz klar, warum sich die Kommunistische Partei Chinas noch kommunistisch nennt. Was in China gerade triumphiert, ist in Wirklichkeit eine neue Form des Kapitalismus, was die derzeitige Sinnkrise im Westen ein wenig komisch wirken lässt. Doch diese Schablonen führen nicht weiter.

Konstruktiver ist wohl die Frage, ob das nun auch in China kopierte Wachstumsmodell nach amerikanischem, japanischem und europäischem Modell in Zeiten des Klimawandels und der Ressourcenverknappung überhaupt noch haltbar ist.

Ökologisch inspirierte Zukunftsforscher wie Lester R. Brown vom Earth Policy Institute in Washington rechnen vor, dass China schon jetzt mehr Kohle, Weizen und Stahl verbraucht als die USA und dass, sollte das derzeitige Wachstum anhalten, die Chinesen im Jahr 2031 täglich 99 Millionen Barrel Erdöl pro Tag verbrauchen könnten, in etwa die gesamte heutige Weltproduktion. "Das westliche Wirtschaftsmodell wird für China nicht funktionieren", resümiert Brown in seinem Buch "Plan B 2.0".

Profiteur der Globalisierung

Optimisten dürfen sich damit trösten, dass Brown und andere Ökologen denselben Fehler wiederholen, dem auch schon die Wahrsager vom "pazifischen Jahrhundert" aufgesessen sind - dem einer linearen Extrapolierung zurückliegender Wachstumszahlen in die Zukunft.

Ganz so schlimm muss es nicht kommen, jedenfalls nicht ganz so schnell. Trotzdem ist der von Brown skizzierte Trend in China und anderen, auf die schnelle Ausbeutung natürlicher Ressourcen konzentrierten Volkswirtschaften, sehr beunruhigend.

Um beim Fall Chinas zu bleiben: Da es dank seiner Niedriglöhne in seiner gerade zurückliegenden Industrialisierungsphase zur Werkbank der Welt geworden ist, hat es wie kein anderes Land der Erde von der Globalisierung profitiert.

Stärker als andere Länder hat es aber nun wegen seiner riesigen Bevölkerung, seiner bereits zu großen Teilen vergifteten Flüsse, seiner verpesteten Luft und seiner knapper werdenden Ackerfläche unter der Ressourcenverknappung und dem Klimawandel zu leiden.

Gewalttätige Proteste

Die staunenden Politiker aus Europa auf Chinareise bereisen selten das arme Hinterland der chinesischen Megastädte, wo dieser ökologische Raubbau inzwischen nicht nur mit bloßem Auge sichtbar ist, sondern auch jährlich viele gewalttätige Proteste auslöst.

Das Verhaften von Dissidenten, das Einschüchtern von Journalisten und andere "Erfolgsrezepte" von Entwicklungsdiktaturen, die vorübergehend und in unwesentlichem Ausmaß das Tempo der Industrialisierung gefördert haben mögen, könnten sich für den nun erforderlichen Umbau auf eine grüne, die nachhaltige Entwicklung sichernde Volkswirtschaft als wesentliche Altlasten herausstellen.

Ob das autoritäre Kapitalismusmodell langfristig ohne Demokratisierung überlegen ist, muss sich erst noch zeigen. Die Systemfrage ist noch lange nicht entschieden.

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