Wirtschaftskrise und Innovation:Der Stoff, aus dem Geschäfte sind

Es gibt Hoffnung: Die besten Dinge werden erfunden, wenn die Not groß ist. Eine kleine Industriegeschichte.

Jochen Schmidt

Der Schriftsteller Jochen Schmidt lebt in Berlin. Zuletzt erschien sein viel gelobtes Buch "Schmidt liest Proust" bei Voland &Quist.

Wirtschaftskrise und Innovation: Um die Playmobil- Männchen herzustellen, braucht man viel Öl. Entwickelt wurden die Playmobil-Figuren aber in der Öl-Krise, als ein Großplastikfabrikant auf ein Produkt umstieg, das weniger Rohstoffe verbraucht.

Um die Playmobil- Männchen herzustellen, braucht man viel Öl. Entwickelt wurden die Playmobil-Figuren aber in der Öl-Krise, als ein Großplastikfabrikant auf ein Produkt umstieg, das weniger Rohstoffe verbraucht.

(Foto: Foto: AP)

In der Zeitung war jetzt von zwei Vliesstoffexperten des Weinheimer Unternehmens Freudenberg zu lesen, die es als ihre Lebensaufgabe betrachten, der von ihnen konzipierten Spinnvliesanlage besonders feine Endlosfäden zu entlocken.

Der Kampf dieser Weinheimer Männer, mit Wasserstrahlen das Filamentgewirr aufzusplitten, um einen immer dünneren Faden für geschmeidige Vliesstoffe zu ziehen, ist nicht weniger eindrucksvoll als Siegfrieds Versuch, im Wald sein Schwert Nothung schärfer als jedes andere Schwert zu schmieden.

Die Zeit der Mythen ist nicht vorbei, sie finden lediglich nicht mehr ihren Erzähler. Als Autor bin ich leider mit einer natürlichen Verachtung für alles Wirtschaftliche aufgewachsen, während die Sphäre des Seelischen stets als textwürdiger galt.

Irritierende Doppelung

Dabei steckt hinter jedem Produkt eine Geschichte, nicht weniger interessant als der Ursprungsmythos einer Nation und für Millionen von Kunden so folgenreich wie das Stiften einer neuen Religion.

Schon die irritierende Doppelung identischer Produkte, zu der der Westen neigte, hatte ja etwas von Held und Antiheld: Uhu und Pritt, Smarties und M&M, Tempo und Softies. Ich in der DDR hatte Produkte immer als naturgegeben empfunden, ihre Einführung war lange vor meiner Geburt erfolgt, und an der grundsätzlichen Ordnung in den Regalen schien sich im Lauf des Lebens nicht viel zu ändern.

Ein erster Versuch, mehr über die Geschichte bestimmter Produkte zu erfahren, lässt aber verblüffende Gesetzmäßigkeiten des Erfolgs erkennen, deren gemeinsamer Nenner die Krise war, ohne die es viel von dem, was uns das Leben leichter macht, nicht geben würde.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum die chamäleonartige Qualität von Unternehmen etwas Märchenhaftes hat.

1. Ein Produkt, das niemand will, ist der erste Schritt zum Erfolg

Die William Wrigley Jr. Company wurde am 1.April 1891 gegründet und verkaufte ursprünglich Seife, der Backpulver beigelegt wurde, das sich hoher Beliebtheit erfreute. Als man das Backpulver mit Kaugummistreifen auszuliefern begann, waren diese schnell populärer als die Seife und das Backpulver zusammen, woraufhin man bemerkenswert unsentimental die Produktion des Unternehmens auf Kaugummi umstellte. Hätte sich das Backpulver vorher besser verkauft, wäre das Bedürfnis der Kunden nach Kaugummi nie bekannt geworden.

Diese chamäleonartige Qualität von Unternehmen hat etwas Märchenhaftes. Nokia würde vielleicht nicht mehr existieren, wenn man daran festgehalten hätte, wie seit der Gründung im Jahr 1865 weiter Papier und Gummistiefel zu produzieren. Offenbar hatten irgendwann alle Finnen genug Gummistiefel, also entwickelte man Autotelefone.

Schlechte Infrastruktur - radikale Innovationen

Hätte es in Finnland nun ein leistungsfähiges Telefonnetz gegeben, wären Handys dort sicher nicht so erfolgreich gewesen, man kennt das aus Osteuropa, wo sie sich schneller durchgesetzt haben als bei uns. Eine schlecht entwickelte Infrastruktur regt aber zu radikaleren Innovationen an. Wer weiß, was für Fortbewegungsmittel in Deutschland schon erfunden worden wären, wenn es nicht so einfach wäre, mit dem Auto von A nach B zu gelangen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es am Ende eben doch immer wieder auf die Weisheit der Ureinwohner hinausläuft.

2. Man muss Probleme schaffen, an deren Lösung man verdient

Wenn man mit Kaugummis Blasen macht, verkleben sie einem das Gesicht, ein Problem, das vor der Erfindung des Kaugummis natürlich unbekannt war. Die Lösung lieferte Wrigley's einfach selbst, indem man 1979 unter dem Slogan "Big bubbles, no troubles!" Hubba Bubba einführte, einen weniger klebrigen Kaugummi. Gerüchte rissen nie ab, dass für Hubba Bubba Walfischspeck verwendet wurde, wie ihn die Inuits zur Zerstreuung kauen. Am Ende läuft es eben doch immer wieder auf die Weisheit der Ureinwohner hinaus.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Playmobil mit der Ölkrise zu tun hat.

3. Wenn die Rohstoffe knapp werden, kommen die Ideen

Die Ölkrise Anfang der 70er führte dazu, dass die Firma Geobra, die Großkunststoffartikel produzierte, nach einem Produkt suchte, für das man weniger Material brauchte. 1974 wurde Playmobil auf den Markt gebracht und auf der Internationalen Spielwarenmesse vorgestellt, die interessanterweise seit den 50er Jahren in Nürnberg stattfindet - ein gelungener Imagewechsel für eine Stadt.

Wie in der Bibel wurde zunächst der Mann geschaffen. Die ersten Playmobil-Themen hießen Baustelle, Wilder Westen und Ritterzeit. Wobei der Prototyp Leichenbestatter als nicht kindgerecht empfunden wurde, ebenso die mittelalterliche Folterkammer. Chinesische Plagiate mit beweglicheren Gliedern verschwanden schnell wieder vom Markt, die Kinder liebten exakt jene ungelenken Playmobilfiguren, die sie der Ölkrise verdankten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum sich die Gillette-Klingen im Ersten Weltkrieg durchsetzten.

4. Das Produkt muss in kleinen Schritten verbessert werden

1929 wurde von der Hannoveraner Firma Pelikan ein Füllhalter präsentiert, dessen Markenzeichen das teiltransparente Tintenfenster war. Man musste den Stift nicht mehr aufschrauben, um zu sehen, ob er noch Tinte enthielt. So ähnlich würde der teiltransparente Kühlschrank funktionieren, auf den wir allerdings noch warten.

30 Jahre später entwickelte man den Schülerfüller Pelikano. Ein Spezialistenteam aus Pädagogen und Technikern hatte festgestellt, dass auch bei aufgesteckter Kappe der Schwerpunkt möglichst weit vorne liegen muss, damit der Füller nicht aus der Hand herauskippt. (Und wieder schuf man Probleme, an deren Lösung man in Gestalt des Tintenkillers mitverdiente, der 1972 auf den Markt kam.)

Rutschbremse erst nach knapp 60 Jahren

Es dauerte bis 1973, dass man eine geriffelte Mulde als Griffprofil für den Zeigefinger einführte. Weitere 11 Jahre vergingen mit der Entwicklung einer Mulde für den Mittelfinger, ein weiteres Jahr dauerte die Einführung einer Rutschbremse für den Daumen.

Verbesserungen müssen also in kleinen Schritten vorgenommen werden, so wie man auch beim Stabhochsprung den Weltrekord immer nur um einen Zentimeter verbessert.

Noch klüger wäre es, seine Weltrekorde millimeterweise aufzustellen, wie es offenbar bei Nassrasierern geschieht, deren Funktionsweise, glaubt man der Werbung, seit Menschengedenken Jahr für Jahr immer wieder revolutioniert wird. Gemessen an diesen kontinuierlichen Innovationen muss sich die Nassrasur noch vor wenigen Jahren wie Kartoffelschälen angefühlt haben.

Es ist im Übrigen ausgeschlossen, vorauszusehen, was einem Produkt zum Durchbruch verhelfen wird, aber denkt man an den Krieg, liegt man meistens richtig. Gillette-Klingen setzten sich im Ersten Weltkrieg durch, weil die Gasmasken nur bei einer einwandfreien Rasur schlossen. Auch Ohropax und der Reißverschluss verdanken ihre Durchsetzung dieser europäischen Katastrophe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was die Einführung des Tintensichtfensters bei Pelikano mit dem Fall der Mauer zu tun hat.

5. Ideen liegen in der Luft, es hat keinen Sinn, sich anzustrengen

1989 gab es bei Pelikano mit dem Tintensichtfenster am Schaft, welches die Sicht auf Tinten- und Reservepatrone freigab, eine letzte größere technische Veränderung. Man muss seine Phantasie nicht allzusehr bemühen, um einen Zusammenhang zwischen der Einführung des Tintensichtfensters und dem Fall der Mauer zu erkennen. Die Zeichen standen einfach auf Transparenz und Öffnung.

Lesen Sie auf der sechsten Seite, wie es zur Entwicklung der Matchbox-Autos kam.

6. Die Politik muss die Rahmenbedingungen verschlechtern

Seit 1989 stagniert der Pelikano. Kreativität braucht Zwänge, erst das starre Reimkonzept nötigt den Dichtern Höchstleistungen ab. Die Firma Lesney, die von Leslie und Rodney Smith 1947 in London gegründet wurde, betätigte sich als Zulieferer von Zinkguss-Bauteilen für die Maschinenbau-Industrie.

Eine Besonderheit im britischen Steuerrecht - die Lagerbestände eines Unternehmens am 1.Januar eines Jahres wurden als Bemessungsgrundlage für die zu zahlende Unternehmenssteuer herangezogen - , führte dazu, dass Zulieferbetriebe wie Lesney in den letzten Monaten eines Jahres praktisch keine Aufträge mehr bekamen.

Ein Erfolg willkürlicher Auflagen

Um die Maschinen auszulasten, konzentrierte man sich angesichts des bevorstehenden Weihnachtsgeschäftes auf die Herstellung von Spielzeug. Da es andererseits nicht erlaubt war, Spielsachen in die Schule mitzunehmen, die größer als eine Streichholzschachtel waren, baute man Matchbox-Autos - ein Erfolg willkürlicher staatlicher Auflagen.

Als John Stith Pemberton um 1880 aus Wein, Colanüssen und Damiana (einem Extrakt aus Coca-Blättern), einen Sirup gegen Müdigkeit und Depressionen mixte, war das populärste Getränk der Neuzeit noch nicht erfunden. Erst die Prohibition zwang ihn, den Wein wegzulassen.

Lesen Sie auf der siebten Seite, warum gutes Wetter schlechte Folgen für die Wirtschaft haben kann.

7. The good times are killing me, nötig sind u.a. mehr Unfälle

Der Juniorchef von "Königsee Implantate Thüringen" sagte in der Zeitung: "Der letzte Winter war zu mild, zu wenig Unfälle. Die Unfallchirurgen hatten zu wenig zu operieren und der Umsatz beim Verkauf von Knochenschrauben, Nägeln und Platten brach ein." Gutes Wetter kann Folgen für die Wirtschaft haben, die es mit den Folgen von schlechtem Wetter aufnehmen könnten.

Die Vollbeschäftigung wiederum wäre eine Gefahr für die Unterhaltungsindustrie, denn ein Heer von Arbeitslosen hat mehr Zeit zum Fernsehen und Bummeln. Das sagte sich auch Charles Darrow, als er 1930 einen Zeitvertreib für die vielen Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise suchte, und das Monopoly-Spiel entwickelte (wobei Plagiatsvorwürfe nie endgültig ausgeräumt werden konnten).

Auf der achten Seite wird ein Beispiel für Erfolg trotz Dilettantismus präsentiert.

8. Neuerungen müssen alle Erfahrungswerte missachten

In der ersten deutschen Monopoly-Ausgabe, die in den dreißiger Jahren auf den Markt kam, waren Straßen aus dem Berliner Nobelviertel Schwanenwerder, in dem Joseph Goebbels wohnte, am teuersten. Er ließ das Spiel 1936 offiziell wegen seines "jüdisch-spekulativen" Charakters verbieten, jedoch ging es ihm mehr um die Insel Schwanenwerder als teuerste Immobilie.

In der westdeutschen Monopolyversion von 1953 verwendete man unverfängliche Straßennamen, wie Schlossallee oder Badstraße. Interessant wäre eine Liste der weltweit teuersten und preiswertesten Monopoly-Immobilien und der Einfluss solch einer Liste auf den dortigen Immobilienmarkt.

Nach einem Testspiel lehnten die Parker-Manager es übrigens ab, Monopoly in ihr Sortiment aufzunehmen. Das Spiel dauerte extrem lange, die Regeln waren kompliziert, und vor allem fehlte ein Zielpunkt, weil die Mitspieler fortwährend im Kreis laufen müssen. Wenn man Schulden erlaubt, ist eine Partie Monopoly eigentlich erst mit dem Tod aller Teilnehmer beendet. Dilettantischer hätte man die bisherigen Erfahrungen der Spieleindustrie nicht umsetzen können. Der Erfolg war garantiert.

Lernen Sie auf der neunten Seite die genialste Interpretation der Marktwirtschaft kennen.

9. Lernen vom Drogenhandel, Kinder mögen Süßes

Süßwarenhersteller verfügen in den Kindern über eine unersättliche Käuferschicht, die nicht erst in die Abhängigkeit getrieben werden muss. Kindern kann man ALLES verkaufen, was ungesund ist, zur Not streut man einfach Smarties drauf.

Könnte man die Eltern aus dem Weg räumen, stünde dem Geschäft nichts im Weg. Die Firma Haribo geht noch weiter, sie verkauft Minderjährigen "Stoff" und verdient zusätzlich an der Beschaffung. Einmal im Jahr dürfen sich nämlich Kinder in der Bonner Zentrale Kastanien und Eicheln in Gummibärchen aufwiegen lassen. Mit den Kastanien und Eicheln werden dann die Tiere im Wildgehege der Firmeninhaber gefüttert.

Die Kinder verderben sich die Zähne, und die Kapitalisten laben sich am Wildbret. Genialer kann man soziale Marktwirtschaft nicht interpretieren.

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