Wirtschaftsaufschwung:Party? Welche Party?

Lesezeit: 3 min

Kaum berappelt sich die Konjunktur, spielt FDP-Chef Westerwelle seine Lieblingsplatte: die von der Steuersenkung. Dabei steht der Aufschwung auf wackeligen Füßen.

M. Balser und A. Borchardt

Wie es Deutschland geht? Norbert Räth blickt auf endlose Tabellen. Räth, ein Mann mit weißem Haar und Schnauzer Ende fünfzig, arbeitet im siebten Stock eines Hochhauses in Wiesbadens Innenstadt. Räth kennt Details über das Land wie kaum ein anderer. Milliardengeschäfte, Insolvenzen, Einkäufe, Konjunkturprogramme, Autoreparaturen - für Räth hängt das alles zusammen. Der Ökonom ist Chef der Gruppe III A des Statistischen Bundesamts, Abteilung Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Sie führt die Bilanz der Bundesrepublik, und Räth ist ihr wichtigster Buchhalter.

Warenumschlag am Hamburger Hafen: Die Wirtschaft scheint die Krise überstanden zu haben. Aber wie kräftig ist der Aufschwung wirklich? (Foto: ddp)

Seit Freitag macht Räths jüngste Diagnose in Deutschland Schlagzeilen: 2,2 Prozent Plus beim Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal hat er dem Land bescheinigt. Seit zwei Jahrzehnten waren die Zahlen in Räths Tabellen nicht mehr so gut. "Auch wir werden manchmal überrascht", sagt Räth. Plötzlich wächst die deutsche Wirtschaft schneller als die der USA oder Großbritanniens. Und auf einmal macht ein Gefühl die Runde, das unter Entlassungswellen, Insolvenzen und Schreckensszenarien begraben zu sein schien: Es ist wieder etwas möglich in Deutschland. Für die Konzerne, für die Bürger. Und auch für die Regierung. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) spricht von einem "Aufschwung XL" und weckt damit bei seinen Kabinettskollegen in Berlin neue Begehrlichkeiten. Als Erster wagte sich FDP-Chef Guido Westerwelle aus der Deckung und brachte am Wochenende erneut Steuersenkungen ins Gespräch.

Der Aufschwung ist da - die Krise aber auch noch

Das Credo des Vizekanzlers: Die Regierung sollte eine "Aufschwungdividende" an diejenigen weitergeben, die das Plus erwirtschaftet hätten. Zu seiner Verteidigung ließe sich sagen, dass der Mann nicht Wirtschaftsminister ist. Insofern könnte es verzeihlich sein, wenn er mit Begriffen aus der Ökonomie etwas sorgloser umgeht als Kabinettskollege Brüderle.

Und so mag die Dividende, die Westerwelle in Aussicht stellte, auch jener Sorglosigkeit entsprungen sein, die angesichts der grandiosen Wachstumszahlen aus dem zweiten Quartal viele Menschen in Deutschland erfasst hat. Dabei steckt die Wirtschaft noch immer in Schwierigkeiten. Das Land muss sich mit einer seltsamen Situation abfinden. Der Aufschwung ist da - und doch ist die Krise nicht vorbei. Gemessen am Jahr 2008, dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, liegt die Konjunktur-Statistik deutlich im Minus. Noch lange gibt es nichts zu verteilen. Schon gar keine Gewinne. Denn frühestens 2012, so die Wirtschaftsforscher des Münchner Ifo-Instituts, soll das Niveau des Vorkrisenjahres erreicht werden. Erst dann wird das Land den tiefen Fall wirklich hinter sich haben.

Hinzu kommt, dass der Aufschwung fragil ist. So wächst die Immobilienblase in China, jenem Markt, der den wichtigen deutschen Exportbranchen derzeit am meisten Freude bereitet. Und niemand weiß, ob die Regierung dort trotz ihrer Vorliebe für Dirigismus effektiv gegensteuern kann. Auf der anderen Seite schwächelt die US-Konjunktur weiterhin. Hatten Experten zu Beginn der amerikanischen Immobilienkrise 2007 hierzulande noch vollmundig erklärt, der starke europäische Wirtschaftsraum könne sich dieses Mal von den amerikanischen Kalamitäten abkoppeln, wurden sie im Jahr danach eines Besseren belehrt.

Jetzt, in diesen Wochen, kann man noch nicht einmal von einem europäischen Wirtschaftsraum sprechen. Die jüngsten Wachstumszahlen gerade der südeuropäischen Länder sind miserabel, und das deutsche "Wirtschaftswunder" ist für sie alles andere als hilfreich. Immerhin gehen deutsche Exportwaren vor allem in den Euroraum.

Drohen neue Verteilungskämpfe?

Das heißt im Umkehrschluss, aus den anderen Ländern fließt Geld nach Deutschland ab. Dieser Fluss wird in dem Umfang versiegen, in dem die Krisenstaaten sparen müssen. Ökonomen warnen deshalb vor neuen Verteilungskämpfen in Deutschland. Schließlich fuhr die Regierung ihre Ausgaben in der Not nicht etwa zurück, sondern stockte sie drastisch auf: Rund 80 Milliarden Euro hat Berlin in Form von zwei Konjunkturpaketen in die Wirtschaft gepumpt und sich dafür im vergangenen Jahr hohe Schulden aufgeladen.

Die Steuereinnahmen würden zwar nun vermutlich schneller steigen als gedacht, sagt Kai Carstensen, Konjunkturchef des Ifo-Instituts. Er sei allerdings mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble einer Meinung: "Diese zusätzlichen Einnahmen sollte die Regierung für die Konsolidierung nutzen." Die große Gefahr sei, dass die Bundesregierung ihre selbst gesteckten Sparziele aus den Augen verliere, warnt Carstensen. "Wir müssen aber die Staatsfinanzen auf eine solidere Basis stellen, denn solide sind sie im Moment nicht."

© SZ vom 17.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: