Wirtschaftliche Abhängigkeiten:Wenn alle miteinander aufsteigen - und fallen

A porter transports metal pipes on a wooden handcart as people wait to cross a street in Mumbai

Staaten wie Indien, hier eine Szene aus Mumbai, haben einen enormen Anteil an der weltweiten Produktion - mit Folgen für die etablierten, reichen Länder.

(Foto: Danish Siddiqui/Reuters)

Chinas Wirtschaft geht es schlechter, die Folgen spürt die ganze Welt. Der IWF zeigt, wie abhängig Schwellen- und Industrieländer voneinander sind.

Von Claus Hulverscheidt, New York

Als im Herbst des Jahres 1997 in Thailand, Südkorea und Indonesien die Währungen kollabierten, die Volkswirtschaften einbrachen und die Menschen ins Elend stürzten, setzte sich der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel kurz entschlossen in sein Dienstflugzeug, um sich an Ort und Stelle selbst ein Bild der Lage machen. Marktturbulenzen in Schwellenländern waren damals nicht mehr als weit entfernte Gewitter, von denen in den reichen Industriestaaten meist kaum mehr zu hören war als ein leises Donnergrollen. Es bedurfte schon veritabler Krisen, um sie aufzuwecken.

Wie sich die Zeiten geändert haben: Als Ende August vergangenen und dann noch einmal im Januar dieses Jahres in China die Börsenkurse abstürzten, gingen die Schockwellen tagelang um die ganze Welt. Die Beben waren so gewaltig, dass sich selbst die mächtige US-Notenbank Fed zu einer Kurskorrektur genötigt sah: Fed-Chefin Janet Yellen hat ihre Zurückhaltung bei der Ankündigung weiterer Zinserhöhungen mit der instabilen wirtschaftlichen Situation "im Ausland" begründet - gemeint war vor allem China.

Allein die Finanzgeschäfte haben sich innerhalb weniger Jahre verdoppelt

In einer groß angelegten Analyse hat nun der Internationale Währungsfonds (IWF) erstmals untersucht, wie sich die finanziellen Abhängigkeiten, die Ansteckungsmöglichkeiten und Übertragungseffekte zwischen den reichen und den aufstrebenden Ländern im Laufe der Zeit verändert haben. Ergebnis: "Der Einfluss der Finanzmarktentwicklung in den Schwellenländern auf die Industriestaaten hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten dramatisch zugenommen", sagt Gaston Gelos, der zuständige IWF-Abteilungsleiter der SZ. "Etwa ein Drittel der Kursschwankungen auf den Aktien- und Devisenmärkten der Industrieländer ist heute auf Ereignisse in den Schwellenländern zurückzuführen."

Zwei Faktoren haben diese Entwicklung maßgeblich begünstigt. Zum einen ist die wirtschaftspolitische Bedeutung großer Schwellenländer wie China, Indien, Russland, Indonesien, Brasilien oder Südafrika seit der Jahrtausendwende massiv gestiegen. Die Hälfte des weltweiten Wirtschaftswachstums in jenen gut 15 Jahren fand in diesen Staaten statt. Ihr Anteil an der weltweiten Produktion von Gütern und Dienstleistungen liegt mittlerweile bei 38 Prozent. Der Handel zwischen den Industrie- und den Schwellenländern ist inzwischen umfangreicher als der Warenaustausch zwischen den reichen Staaten. Dabei sind die Schwellenländer längst nicht mehr nur wichtige Absatzmärkte und Rohstofflieferanten für die Industriestaaten, sondern Teil der globalen Lieferkette.

Mindestens ebenso wichtig aber ist: Neben dem Handel sind auch die Finanzgeschäfte weltweit viel verflochtener. Allein zwischen 2005 und 2013 verdoppelte sich das finanzielle Engagement westlicher Banken in den Schwellenländern, der gesamte grenzüberschreitende Einsatz - darunter Kredite, Direktinvestitionen und Kapitalanlagen - macht mittlerweile 300 Billionen Dollar (rund 265 Billionen Euro) aus.

Das neue Miteinander hat Folgen, gute wie schlechte: "Dass Preisänderungen in einem Markt sich auch international niederschlagen, ist gut, wenn dies wirtschaftliche Realitäten widerspiegelt: Steigt in einem Land die Nachfrage nach einem Produkt und in der Folge der Aktienkurs des lokalen Produzenten, dann ist es richtig und wünschenswert, dass sich auch der Aktienkurs des Mutterkonzerns im Industrieland erhöht", sagt IWF-Experte Gelos - und liefert die Kehrseite der Medaille am Beispiel von Investmentfonds, die in immer mehr Schwellenländern zugleich tätig sind, umgehend mit: "Schreiben diese Fonds im Land A rote Zahlen, dann ziehen sie womöglich zum Verlustausgleich aus dem völlig unbeteiligten Land B Kapital ab, was dann dort zu Kurseinbrüchen führen kann." Ziel müsse deshalb sein, die Vorteile der engeren Verflechtung zu nutzen und gleichzeitig die unerwünschten Nebenwirkungen zu minimieren.

Aus ihren Untersuchungen ziehen Gelos und seine Mitarbeiter eine ganze Reihe von Schlussfolgerungen. Sie plädieren unter anderem dafür, dass die Regierungen der Industriestaaten die Entwicklungen in den Schwellenländern bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen sehr viel stärker berücksichtigen als bisher. Umgekehrt müssten aber auch die Schwellenländer, allen voran das immer bedeutendere China, sehr viel transparenter kommunizieren, wie sich ihre Wirtschaftspolitik wandelt. Gelos fordert außerdem bessere Daten über grenzüberschreitende finanzielle Verflechtungen: "Das klingt banal - ist es aber nicht. Wir wissen kaum etwas darüber, wie Banken, Pensionsfonds und andere Großanleger ihr Geld weltweit streuen." Hinzu kommen müsse eine bessere Aufsicht von Investmentfonds.

"Die Überwachung konzentriert sich bisher vor allem auf den Schutz der Anleger. Wir müssen aber auch schauen, welche Auswirkungen das Verhalten der Fonds auf die Schwellenländer hat und welche Rückkopplungseffekte daraus wiederum für den Heimatmarkt entstehen", sagt Gelos. Wenn Fonds viel stärker als früher in Schwellenländern investierten, dann kauften sie Wertpapiere, die sie im Notfall wegen des viel geringeren Marktvolumens vielleicht nicht sofort oder nur unter Inkaufnahme sehr hoher Verluste wieder loswürden. "Das wissen viele Menschen, die Anteile an einem Schwellenländerfonds kaufen, aber nicht." Den Schwellenländern empfiehlt der IWF, nicht nur um ausländisches Kapital zu buhlen, sondern sich darum zu bemühen, die eigene Bevölkerung als Anleger zu gewinnen - zum Beispiel durch den Aufbau eines lokalen Pensions- und Versicherungsmarkts. "Eine solche heimische Investorenbasis", sagt Gelos, "kann Schocks von außen abfedern, denen das Land sonst wesentlich schutzloser ausgeliefert wäre."

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