Wenn Banken nicht korrekt rechnen:Erbsen zählen lohnt sich

Kreditinstitute können Millionen verdienen, indem sie heimlich zu viele Zinsen kassieren, gerade Unternehmer kostet dies viel Geld - jetzt rollt der Widerstand an

Thomas Öchsner

Hof - Manchmal muss sich der Kreditsachverständige Rainer Härtl schon sehr wundern. Da gibt es zum Beispiel den Fall Wunderlich. Das Ehepaar, das tatsächlich so heißt und lange Zeit eine florierende Bäckereikette im Raum Hof betrieb, hatte zahlreiche Geschäftskonten bei der Vereinigten Volksbank Hof-Helmbrechts-Münchberg.

Vor fast vier Jahren tauchten die Bäckersleute bei Härtl auf, brachten Kartons mit Kontoauszügen und Darlehensverträgen mit und baten ihn, doch einmal zu prüfen, ob ihre Bank die Zinsen wohl immer korrekt abgerechnet hat.

Das Ergebnis verblüffte selbst Härtl: Das Institut hatte nach seinen Berechnungen von 1984 bis 2001 rund 275.000 Euro an Zinsen zu viel verlangt. "Was diese Bank getan hat, war schon besonders dreist", sagt er.

Der 38-jährige Mann war früher einmal Versicherungsvertreter. Seit fünf Jahren lebt er davon, Banken nicht korrekte Zinsberechnungen nachzuweisen. Seine Aufträge erhält er von kleinen und mittleren Betrieben.

Das Gutachten über die Geschäftsverbindung der Eheleute Wunderlich und ihrer Hausbank steht heute in einem grauen Hochschrank in seinem Büro in Döhlau-Kautendorf bei Hof. Mit 400 Seiten gehört es zu den dicksten in Härtls Sammlung.

Insgesamt fasst der Schrank etwa 140 Gutachten, 140 Werke über Geschäfts- und Darlehenskonten, gespickt mit Zahlen und Excel-Tabellen, die Kreditinstitute eine Menge Geld gekostet haben. Seit 2000, sagt Härtl, habe er mit seinen Gutachten dafür gesorgt, dass Banken ihren Kunden in Vergleichen mehr als sechs Millionen Euro zustanden. Und um weitere etwa 25 Millionen Euro streiten seine Klienten derzeit vor Gericht.

Bundesweit könnte es um ganz andere Summen gehen. Härtl arbeitet zusammen mit vier Mitarbeitern. Seine Kunden kommen vor allem aus Oberfranken und der Oberpfalz. Gäbe es viele Härtls in Deutschland und würden viele Betriebe nachrechnen lassen, kämen womöglich etliche Milliarden zusammen.

Denn warum sollten nur einige Geldinstitute im oberfränkischen Raum systematisch falsch rechnen? Das befürchtet auch Arno Gottschalk von der Verbraucherzentrale Bremen. "Der Verdacht liegt nahe, dass die gleichen Berechnungsmängel, die wir in teilweise großem Umfang zum Beispiel bei Vorfälligkeitsentschädigungen bundesweit in Verträgen von Verbrauchern feststellen, es wahrscheinlich auch bei Darlehenskonten von Betrieben gibt", sagt der Finanzexperte.

Gravierende Fehler

Härtl lehnt es ab, die Geldinstitute pauschal an den Pranger zu stellen. Er ist ein vorsichtiger Mann. Wer ihm zuhören will, braucht Geduld, er spricht langsam, die Worte sorgsam abwägend. "Es gibt viele Geldinstitute, die absolut korrekt arbeiten", sagt er, "aber bei knapp der Hälfte der Fälle, die in unserem Büro landen, finden wir gravierende Fehler."

Die Wunderlichs stolperten über ihre Geldbomben. Zwar landeten diese abends nach Filialschluss im Nachttresor. Aber auf der Habenseite des Kontos fanden sich die Einnahmen der Bäckerei immer erst Tage später. Dabei sind Nachttresor-Einzahlungen am nächsten Bankarbeitstag gutzuschreiben, hingegen Bareinzahlungen genauso wie Überweisungen am Tag des Eingangs.

Erbsen zählen lohnt sich

Bei den Wunderlichs kamen so nach der Statistik von Härtl 19075 unkorrekte Wertstellungen zusammen, wie es im Bankjargon heißt. "Die Bank hat die Gutschriften zu spät wertgestellt und Belastungen rückdatiert, um auf diese Weise höhere Zinseinnahmen zu erzielen", sagt er. Gern hat demnach die Volksbank auch das Wochenende genutzt: 1422 dieser Wertstellungen entfielen auf Samstage, Sonn- und Feiertage.

Solche Abweichungen sind für den Fachmann leicht zu entdecken, weil Buchungs- und Wertstellungstag auf dem Kontoauszug nicht übereinstimmen. Dabei geht es eigentlich um Kleinvieh. Doch Kleinvieh macht bekanntlich Mist, und so können sich viele Cent und Euro, die bei einer Bank als Wertstellungsgewinne in die Bilanz einfließen, durch den Zinseszinseffekt zu einem beträchtlichen Vermögen anhäufen. Bei den Geschäftskonten von Wunderlichs soll so allein ein Schaden von immerhin 21463 Euro zusammengekommen sein.

Härtl fand aber noch viel mehr: In seinem PC hat er eine Datei mit den Marktzinsen der Bundesbank seit 1967, zum Beispiel für den Bereich "Schwerpunktzinssätze für grundpfandrechtlich abgesicherte Kredite". Damit kann er prüfen, inwieweit das Geldinstitut bei variablen Darlehen Zinssenkungen an den Kunden weitergegeben hat.

Bei den Wunderlichs machte dies laut dem Gutachten den größten Batzen aus. Hinzu seien andere Versäumnisse gekommen, wie etwa nicht korrekte Buchungen bei Geldflüssen innerhalb verschiedener Konten oder beim Anrechnen von Tilgungen. "Die Arbeit ist oft eine Erbsenzählerei", sagt Härtl und grinst dabei.

Er mag Zahlen. Schon als Schüler liebte der Oberfranke die Mathematik. Seiner vier Jahre älteren Schwester half er bei den Hausaufgaben. Nach der Mittleren Reife besuchte er eine Schule für Datenverarbeitung. Als er und seine Mutter selbst Ärger mit einer Bank hatten, gründete er eine "Selbsthilfegruppe für Kreditgeschädigte".

Daraus entstand seine Arbeit als Sachverständiger, ohne dass er sich bisher öffentlich als solcher vereidigen ließ. "Dann müsste ich womöglich auch Gutachten anfertigen, die Banken gegen Kunden verwenden könnten", sagt der Autodidakt. Und das will er auf keinen Fall.

Härtl sitzt oft bis tief in die Nacht über Kontoauszügen und Verträgen - und sucht Fehler. Die einzelnen Arbeitsstunden lässt er sich dabei nicht bezahlen. Er nimmt ein Erfolgshonorar. Zahlt die Bank bei einem Vergleich, kassiert er bis zu 35 Prozent der Summe. Wollte er für jeden Arbeitsschritt sofort Geld haben, würde das viele potenzielle Kunden abschrecken.

Die Unternehmer, die bei ihm auftauchen, drücken jedoch meist schon finanzielle Probleme. "Wenn es eng wird, schauen die auf ihre Ausgaben und stellen dann schnell fest, dass die Zinsen einen Großteil verschlingen", sagt Härtl. Bei Gabriela und Richard Wunderlich konnte er nicht mehr viel helfen.

Die Bäckerfamilie musste in der dritten Generation Insolvenz anmelden, nachdem es Probleme mit dem Geldinstitut bei der Finanzierung des Betriebsausbaus gab.

In der Backstube am früheren Stammsitz in Regnitzlosau bei Hof steht jetzt ein Regal mit Werkzeug. Im Backofen probieren die Wunderlichs manchmal alte Hausfrauenrezepte aus. Sie lassen jetzt zum Beispiel Natursauerteigbrote produzieren, die sie als Großhändler weiterverkaufen.

"Wir haben der Bank jahrelang vertraut"

Vorne im früheren Verkaufsraum steht eine Vitrine mit Kaffeetassen. An der Schranktür hängt ein Poster mit der Aufschrift "Brot ist Lust aufs Leben". Oben auf dem Balkon serviert Gabriela Wunderlich Zwetschgenkuchen und sagt: "Wir haben der Bank jahrelang vertraut. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass uns ein Geldinstitut so über den Tisch zieht."

Die Vereinigten Volksbanken Hof-Helmbrechts-Münchberg weisen diese Vorwürfe jedoch zurück. "Wir erkennen das Gutachten in keiner Weise an", sagt ein Sprecher.

Die Familie Wunderlich ist jedoch keine Ausnahme. In Härtls Schrank mit den 140 Guthaben kommt das Institut genauso wie einige andere kleinere Geldhäuser auffällig oft vor. "Es drängt sich der Eindruck auf, dass vor allem kleinere Institute aus dem Genossenschaftsbereich und aus dem Sparkassensektor auf Grund von zu geringen Gewinnmargen Manipulationen bei Wertstellungen vornehmen", sagt Anwalt Andreas Voigtländer-Tetzner von der Kanzlei Buse, Heberer, Fromm in Frankfurt. Er vertritt ebenfalls einen Unternehmer gegen die Hofer Bank.

Seiner Ansicht nach ist das Ganze "längst ein Fall für die Finanzaufsicht". Nur leider kämen die Fälle selten ans Licht. "Entweder merken die Kunden es nicht, oder sie scheuen sich, das Thema anzusprechen, weil sie Angst haben, dass ihnen die Kredite gekündigt werden", sagt der Anwalt. Sollte es zu einer Klagewelle kommen, stelle sich die Frage, ob diese kleinen Banken genug Reserven für Schadensersatz-Zahlungen hätten.

Ähnlich sieht es Professor Udo Reifner, Leiter des Instituts für Finanzdienstleistungen in Hamburg: "Die Arbeit der Verbraucherzentralen zeigt, dass es nach wie vor systematische Falschberechnungen gibt, etwa bei variabel verzinsten Krediten. Aber bei mittelständischen Unternehmen prüft dies keiner nach. Und da geht es um viel höhere Summen."

Reifner träumt davon, die Daten der Beratungsstellen gemeinsam auszuwerten. "Man könnte dann eine Negativ-Hitliste der Banken aufstellen." Aber leider fehle dafür das Geld, sagt der Professor.

Härtl hat sich im Nordosten Bayerns unter Mittelständlern inzwischen einen Namen gemacht. In den Kreditinstituten wird der Sachverständige weniger gern gesehen. Eine Bank erteilte ihm Hausverbot. Eine andere versuchte ihn wegen angeblich unerlaubter Rechtsberatung zu verklagen.

Ein drittes Institut ließ in einem Prozess anregen, doch den Staatsanwalt einzuschalten, weil seine Gutachten "Luftnummern" und "zu über 80 Prozent nicht verifizierbar" seien. Andere Banken, heißt es in dem Schriftsatz, hätten nur bezahlt, weil sie wissen, "dass sie über bestimmte Zeiträume hinweg zum Beispiel Wertstellungen vornahmen, die von der Rechtsprechung nicht gedeckt wurden und dass es wirtschaftlich sinnvoller ist, sich angesichts immenser Gutachterkosten zu vergleichen".

Härtl hält diese Aussage für unsinnig. Er legt eine Liste mit sämtlichen Vergleichen auf seinen Schreibtisch. Darin hat er minutiös aufgeführt, welche Bank wie viel bezahlt hat. Das Ergebnis: Etwa zwei Drittel des verlangten Schadensersatzes haben die Geldinstitute erstattet oder von bestehenden Forderungen abgezogen.

"Wären unsere Berechnungen eine Luftnummer, könnten die Banken ja ganz gelassen prozessieren, weil sie bei einer Entscheidung zu ihren Gunsten für die Verfahrenskosten nicht aufkommen müssten", sagt Härtl.

Die Vereinigte Volksbank Hof-Helmbrechts-Münchberg hat sich übrigens inzwischen bereit erklärt, ihre angemeldeten Forderungen bei der Insolvenz der Wunderlichs um die fraglichen 275.000 Euro zu reduzieren - allerdings ausdrücklich "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht". Geld sei ohnehin nicht mehr zu erwarten, sagt ein Banksprecher dazu.

Das Ehepaar hofft, dass es nicht dabei bleibt. Gabriela Wunderlich hatte bereits 2002 und 2003 gegen die Bank Strafanzeigen wegen des Verdachts auf Betrug und Untreue gestellt. Die Staatsanwaltschaft Hof ermittelt noch immer.

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