Weg vom Kerngeschäft:Wo man eben vorbeikommt

Lesezeit: 4 min

Die Betreiber versuchen heute nicht mehr nur Kraftstoff zu verkaufen, sondern alles Mögliche, was man unterwegs gebrauchen könnte. (Foto: Ralph Peters/imago)

An Benzin verdienen Tankstellen kaum noch. Also versuchen sie, alle Menschen anzusprechen, die gerade unterwegs sind. Und werden so zur Poststelle, zum Supermarkt oder zum Bankautomaten.

Von Felicitas Wilke, München

An der Kasse hat sich an diesem Mittwochvormittag sogar eine Schlange gebildet. Zwei starke Männer in Arbeiterhosen holen sich Semmeln mit Leberkäse, eine Frau gibt ihren Lottoschein ab, einer kauft Schokolade. Wenn er nicht auch noch auf Zapfsäule Nummer fünf deuten und seinen Geldbeutel zücken würde, könnte man fast vergessen, wo man sich gerade aufhält: in einer Tankstelle. In einer, in der es auch einen Getränkemarkt mit fränkischen Bieren und italienischen Weinen gibt, einen Paketservice und Laugenstangen mit Obazda.

Die Filiale im Münchner Osten ist eine von rund 30 Filialen der Firma Allguth. Sie gehört zu den freien Tankstellen in Deutschland. Aber auch die großen Marken wie Shell und Aral versuchen, ihren Kunden mehr als nur Benzin zu bieten. Jüngstes Beispiel sind die Amazon Locker, an denen Kunden ihre beim Onlinekaufhaus bestellten Waren abholen können. Sie werden zurzeit an zehn Shell-Stationen getestet. Die Tankstellen in Deutschland rüsten um. "Das Prinzip lautet: Einsparen oder Aufsatteln", sagt Stephan Zieger, Geschäftsführer des Bundesverbands freier Tankstellen (BFT).

Harald Hungenberg forscht als Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg unter anderem zu Unternehmen, die sich von ihrem ursprünglichen Kerngeschäft entfernt haben. "Seit es Unternehmen gibt, suchen sie immer wieder nach neuen Möglichkeiten, Geld zu verdienen", sagt er. Wenn ganze Branchen ihr Geschäftsmodell überdenken, kann das verschiedene Gründe haben. Zuletzt hätten vor allem der technische Fortschritt und der digitale Wandel dazu geführt, dass sich der Wettbewerb in vielen Branchen verschärft habe, sagt Hungenberg. Also müssten die Unternehmen umdenken. Auch die Tankstellen. "Jedes neue Fahrzeug verbraucht weniger Benzin", sagt BFT-Geschäftsführer Zieger.

Aral etwa bringt die Autowäsche mehr Gewinn als die Kraftstoffe

In den Städten nutzen die Menschen zunehmend Carsharing-Angebote und unter Jugendlichen ist es längst nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor 20 Jahren, den Führerschein zu machen. Was gut für die Umwelt ist, schadet dem Geschäft der Tankstellen. Sie verkaufen immer weniger Benzin, für das die Margen im europäischen Vergleich ohnehin schon niedrig sind. Bei einem durchschnittlichen Preis von knapp 1,40 Euro lag die Gewinnspanne im vergangenen Jahr für Diesel bei gut acht, für Benzin bei knapp zehn Cent. Da der Kraftstoff in diesem Jahr günstiger ist als 2015, dürfte die Marge in diesem Jahr noch mal geringer ausfallen.

Der Markt der Tankstellen hat sich in den vergangenen Jahren immer stärker konzentriert. Während es in den Siebzigerjahren in Deutschland mehr als 46 000 Stationen gab, sind es heute weniger als 15 000. Allein im Jahr 2015 machten in Deutschland 31 Tankstellen dicht. Wenn sie heute noch profitabel arbeiten wollen, haben sie Zieger zufolge zwei Möglichkeiten. Entweder, sie sparen am Personal und bauen Bezahlautomaten auf - oder sie setzen auf mehr Service und kreative Ideen. Gerade das Geschäft mit den Shops wurde für die Tankstellen in den vergangen 15 Jahren immer wichtiger. Heute erwirtschafteten die Tankstellen-Betreiber etwa drei Viertel ihrer Erträge mit Produkten und Dienstleistungen, die nicht direkt mit Kraftstoff zu tun haben, sagt Josef Busch, der bei Allguth für die Unternehmensentwicklung zuständig ist. Bei den Aral-Tankstellen tragen die Shops zu 61 Prozent der Gewinne bei, die Kraft- und Schmierstoffe liegen dagegen mit elf Prozent als Gewinnbringer noch hinter der Autowäsche. Eine aktuelle Branchenstudie der Berliner Agentur Scope zeigt, dass sich in Deutschland nur noch "ein geringer einstelliger Prozentsatz" der Tankstellen darauf konzentriert, Benzin und Diesel zu verkaufen. Alle anderen bieten auch Süßigkeiten, Chips oder Getränke an. Die Tankstellen profitieren davon, dass es für viele Menschen schnell gehen muss. Wenn der Hunger auf der Durchreise groß ist, nimmt man auch mal in Kauf, dass der Schokoriegel doppelt so teuer wie im Supermarkt ist.

Viele Großstädter verzichten aufs Auto. Dann verkauft sich vielleicht Fahrradzubehör

Letztlich gehe es für die Tankstellen darum, weiterhin Menschen ins Geschäft zu holen, sagt Wissenschaftler Hungenberg. Und zwar auch diejenigen, die nicht zum Tanken kommen.

So versucht Aral, sich als ernsthafte Alternative zum Supermarkt zu etablieren. Vor zwei Jahren wurden erstmals Rewe-to-go-Läden in zehn Tankstellen installiert, Anfang des Jahres beschloss das Unternehmen, weitere 50 Tankstellen umzurüsten. Im nächsten Jahr folgen nochmals 200. Die Lebensmittel kosten hier zwar mehr als in konventionellen Supermärkten, sind aber nicht ganz so teuer wie sonst in den Shops der Tankstellen. Das wirkt sich auf die Umsätze aus: Die Testphase habe gezeigt, dass die Pächter mit Rewe als Partner mehr Lebensmittel und Heißgetränke als die anderen Tank-Shops verkauft hätten, heißt es bei Aral. Auch in Bundesländern mit strengen Ladenschlussgesetzen dürfen Tankstellen rund um die Uhr sogenannten Reisebedarf verkaufen. Darunter fallen auch kleinere Mengen Lebensmittel. Praktisch für Aral und Rewe, die darauf hoffen können, dass in Zukunft mehr Menschen ihre Einkäufe in der Tankstelle erledigen - und wegen der etwas günstigeren Preise nicht mehr nur im Notfall.

In manchen ländlichen Regionen ersetzt die Tankstelle zumindest zum Teil bereits fehlende Bankfilialen. Seit 2008 können Kunden der Postbank und anderer Institute, die zur Cash Group gehören, bei Shell-Tankstellen kostenlos Bargeld abheben. Auch dann, wenn sie nicht getankt oder eingekauft haben. Bei der Postbank heißt es, man könne so "weiße Flecken auf der Landkarte schließen". Die Tankstelle gewinnt im besten Fall neue Kunden, die bei der Gelegenheit auch noch Zigaretten oder Süßes kaufen.

Josef Busch von Allguth glaubt, dass Tankstellen "ein Katalysator für neue Ideen" sind. Sie liegen oft an großen Straßen und bieten viele Parkplätze. Also müssten sich die Tankstellen fragen, welche Kundenbedürfnisse zu welcher Tageszeit auf dem Weg liegen, sagt Busch. Das kann die Tiefkühlpizza fürs schnelle Abendessen sein, der Brief, den man noch eben aufgeben möchte - oder das Ticket fürs Konzert, das man kaufen will. "Wir beschäftigen uns jeden Tag damit, was wir noch alles anbieten könnten", sagt Busch. Eine Idee, die schon auf seinem Schreibtisch lag: Ersatzteile fürs Fahrrad zu verkaufen. So profitiert am Ende eine Tankstelle davon, dass Großstädter immer weniger Auto fahren.

© SZ vom 29.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: