Warum viele Deutsche früh in Rente gehen:Überschätzte Freiheit für 113 Euro

Wer es sich leisten kann, geht früher in den Ruhestand - und nimmt dabei auch immer höhere Abzüge von der Rente in Kauf. Wenn Unternehmen ihre Mitarbeiter in Zukunft länger halten wollen, müssen sie Perspektiven bieten.

Varinia Bernau, Catherine Hoffmann und Marlene Weiss

Seit mehr als einem Jahrzehnt ist es der erklärte politische Wille, dass die Deutschen länger arbeiten. Seitdem wird es für Arbeitnehmer immer teurer, vorzeitig in Rente zu gehen. Trotzdem lassen sich die Menschen nicht davon abbringen, wie die jüngsten Zahlen der Deutschen Rentenversicherung zeigen: Fast jeder zweite, der in Rente geht, nimmt für eine vorzeitige Altersrente Abschläge in Kauf, die durchschnittlich bei 113 Euro liegen.

Zuschussrente

Ausspannen statt Arbeiten: Für die Frührente nehmen die Deutschen weniger Geld auf dem Konto in Kauf.

(Foto: dpa)

Oft steht dahinter eine einfache Rechnung: Nur wer die finanziellen Möglichkeiten hat, kann früher in Rente gehen. "Ohne Zweifel ist es eine Frage dessen, was man sich leisten kann", sagt Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Das sehe man etwa beim Vergleich von Deutschland mit den USA: Vor einigen Jahren habe eine Studie ergeben, dass gut qualifizierte Angestellte dort eher länger arbeiten, während hierzulande viele in den Vorruhestand gingen - vermutlich auch, weil sie können. Statt eines festen Zeitpunkts wünschen sich einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge mehr als 80 Prozent der Deutschen eine flexible Grenze für ihren Renteneintritt.

Beim Versicherungskonzern Allianz etwa ist die Rente mit 65 höchst unbeliebt. Die wenigsten Beschäftigten arbeiten, bis sie die gesetzliche Altersgrenze erreicht haben, die meisten scheiden früher aus. Grund dafür ist auch eine attraktive betriebliche Altersvorsorge im Unternehmen, die schon mit 60 Jahren abgerufen werden kann. "Das nehmen viele gerne mit", sagt eine Sprecherin der Allianz.

Der Branchenprimus ist hier keine Ausnahme. Denn die Rahmenbedingungen für die Rente haben sich verändert: Als 1916 die Altersgrenze für die gesetzliche Rentenversicherung von 70 auf 65 Jahre herabgesetzt wurde, erreichten viele Ruheständler bereits ein respektables Alter. Heute wird eine Rente im Durchschnitt 18,5 Jahre lang bezogen. Das ist länger als je zuvor - und das, obwohl das durchschnittliche Alter, in dem Beschäftigte in den Ruhestand gehen, seit dem Jahr 2000 von 62,3 auf 63,5 Jahre gestiegen ist.

Dabei überschätzen viele womöglich den Wert der Freizeit. Die Wissenschaftler Axel Börsch-Supan und Hendrik Jürges haben vor ein paar Jahren untersucht, ob die Deutschen glücklicher sind, wenn sie früh in Rente gehen, oder ob es zumindest jenen Arbeitnehmern besser geht, die gesundheitlich angeschlagen sind und sich deshalb vor der Zeit aufs Altenteil zurückziehen. Das Ergebnis war ernüchternd. Im Jahr des Rentenbeginns geht es fast allen Menschen schlechter als im Jahr davor oder danach. Der Effekt ist allerdings recht kurzlebig, bald stellt sich wieder die gewohnte Zufriedenheit ein; langfristig ändert die Frührente so gut wie nichts am Wohlbefinden.

Im Leben zwei oder mehr Berufe nacheinander auszuüben, wird für viele Arbeitnehmer künftig zur Selbstverständlichkeit werden", sagt Peter Körner, bei der Telekom zuständig für Personalentwicklung. "Für die kommenden Jahre und Jahrzehnte wird ein weiter zunehmender Bedarf an Hochschulabsolventen prognostiziert. Aber woher sollen diese bei immer weiter rückläufigen Zahlen junger Menschen kommen?"

Der Bonner Konzern unterstützt deshalb ein berufsbegleitendes Studium für seine Mitarbeiter ab 45 Jahren. Denn die suchen nach neuen Perspektiven - oder stellen schlichtweg fest, dass die Ausbildung zu lange zurück liegt, um die neuesten technischen Entwicklungen zu verstehen. Aus gutem Grund bemühen sich die Konzerne darum, ihre Mitarbeiter so lange wie möglich zu halten. Ganz einfach, weil sie bereits viel Geld in deren Ausbildung investiert haben. Und weil sie vorbeugen wollen für den Fall, dass sie in Zukunft nicht mehr genügend qualifizierten Nachwuchs bekommen.

Noch, so heißt es etwa beim Autohersteller Audi, könne man seine Lehrlinge aus einer Vielzahl von Bewerbern auswählen. Doch es sei längst nicht klar, ob dies auch in zehn oder fünfzehn Jahren noch so sein wird. Das durchschnittliche Alter der Belegschaft liegt heute etwa bei 42 Jahren, Tendenz steigend. Dass die Deutschen immer älter werden, das ist auch in der Fertigung des Autokonzerns zu spüren. Deshalb gibt es dort alle zwei Jahre einen Gesundheitscheck, bei dem jeder konkrete Anweisungen für seinen Arbeitsplatz erhält, um die Belastungen für den Körper zu senken. Älteren Mitarbeitern wird ein jüngerer an die Seite gestellt. Der Neuling soll sich bei dem Erfahrenen Handgriffe abschauen und ihm im Gegenzug ein wenig von seinem Elan mitgeben.

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